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Reinhold Messner ::: Über Leben

Er ist der bekannteste Abenteurer der Welt, der Aufklärer der Yeti-Legende, der Eroberer des Nutzlosen und der bedeutendste Bergsteiger aller Zeiten: In seinem Buch Über Leben reflektiert Reinhold Messner anlässlich seines 70. Geburtstages in 70 Botschaften über seine sieben Lebensabschnitte als Felskletterer, Höhenbergsteiger, Wüstenwanderer, Familienmensch, Bergbauer, Erzähler und Museumsmacher. Wie kaum ein anderer hat Messner sein Potenzial, seine Persönlichkeit, seine Natur umgesetzt und auf vielen Gebieten verwirklicht – überlebensgroß.

© Kevin McElvaney

Doch sieht der Südtiroler Alpha-Alpinist das auch so? Natürlich hat Messner als Pionier der Selbstvermarktung an all diesen Labels fleißig mitgewirkt, doch seinen Erfolg hinterfragte er stets sehr kritisch – gerade jenen auf den höchsten Bergen: „Ich stand 18 mal am Gipfel eines Achttausenders. Dazu musste ich insgesamt 27 Expeditionen organisieren, finanzieren und durchführen. Unterm Strich würde ich mich deshalb als Bergsteiger mit einer sehr niedrigen Erfolgsquote bezeichnen.“

Messner kennt seine Mankos und Schwachstellen, andernfalls wäre er lange schon tot. Er beschreibt sich selbst als äußerst verletzlichen, eher ängstlichen, gebrochenen Menschen. Er hat massive Probleme, die Leistungen anderer Menschen anzuerkennen (bei seinen Lebensleistungen kein Wunder) und nichts bringt ihn so aus dem inneren Gleichgewicht wie massenhafter Ansturm auf seine Person.

Sensibler Sturkopf

Als Tiroler ist mir Messner natürlich seit jeher eine nicht zu übersehende Präsenz in den Gesprächen der Leute und in den Medien, und nicht immer habe ich ihn als angenehmen Kommentator im Ohr gehabt: seine bellende, brüchige Stimme, wenn er sich in heiligen Zorn redet, seine Konfliktlust, das hart urteilende Lehrerhafte, das verbitterte Niedermachen von wenig informierten oder gar geistig unbedarften Mitmenschen, die es eigentlich nur gut mit ihm meinen. Mir kam Messner immer vor wie ein selbstbestimmter Außenseiter der bürgerlichen Welt, die er dennoch virtuos zu nutzen vermag.

Heute halte ich ihn für einen missverstandenen und sensiblen Sturkopf, der nach wie vor an seiner polarisierenden Vergangenheit, am Drama um seinen Bruder Günther und an der inneren Einsamkeit seiner einzigartigen Erfahrungen zu leiden hat. Er ist einer, der „hoch hinaufgestiegen ist, um tief in sich hineinsehen zu können“ und der hierzu von Natur aus den nötigen Auftrieb, die innere Motivation mitbrachte.

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Selbstauslöser: Messner im August 1978 am Gipfel des Nanga Parbat (8125 m) in Pakistan

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Dort oben auf den „Tanzplätzen der Götter“ des Himalaya und in den großen Sand- und Schneewüsten der Erde muss Messner Momente unaussprechlichen Glücks und existenzieller Ausgesetztheit erlebt haben, die er mit so gut wie niemandem wirklich teilen kann.

Außer natürlich mit den Massen, die seine Vorträge und Museen besuchen und seine Bücher lesen. Da jedoch Messners literarischer Output (immerhin knapp 40 Bücher, Herausgeberschaften und Überarbeitungen nicht mit eingerechnet) bis in die späten Achtziger Jahre nicht gerade den eleganten Stil seiner Bergprojekte hatte, ist es um so erfreulicher, dass es mittlerweile einige Schriften von ihm gibt, die auch in dieser Hinsicht von sehr hoher Qualität sind.
Denn dass Messners Meinungen, Analysen und Kulturtheorien (zu Alpingeschichte, Motivation, Eigenverantwortung, Landwirtschaft, Ökologie, Tibet, Südtirol etc.) inhaltlich immer Hand und Fuß haben, daran lässt sich nicht rütteln, egal wie man zu diesem eigensinnigen und bärbeißigen Naturmenschen stehen mag.

Anarchisch und archaisch

Reinhold Messner ist ein homo ludens: Ein spielender, und somit im Sinne von Schillers ästhetischer Erziehung, ein wahrhaftiger Mensch. Sein Spiel- und Experimentierfeld ist nicht bloß die Welt der Berge, sondern sein gesamter Lebensbogen.

Dies ermöglicht ihm Perspektiven auf Individuum und Gesellschaft, von denen wir überzivilisierten, in falschen Sicherheiten gewogenen, durchdigitalisierten und verweichlichten Menschen der sogenannten Ersten Welt nur profitieren können. Einige der 70 Themen in Über Leben, um die er seine Gedanken, Erinnerungen und Einsichten kreisen lässt, sind: Kindheit, Heimat, Freiraum, Gehen, Instinkt, Risiko, Verzicht, Umwelt, Altern, Rituale, Rache, Tod, Genie, Gott, Einsamkeit, Tabu und Schicksal.

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Belesener Burgherr: Reinhold Messner in seinem Arbeitsraum auf Juval, wo er eine umfangreiche Bibliothek über Berge und Abenteuer beherbergt

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Dabei hat der Autor keine Message, sein Buch gehört nur bedingt in die Abteilung „Lebenshilfe“. Zu individuell ist sein rebellischer Lebenslauf zwischen Naturgesetz und Menschengesetz, zwischen weiter Wildnis und tausend Talkshows, als dass er auf die Allgemeingültigkeit seiner Erkenntnisse pochen könnte. Doch wer versteht, wie Messner tickt und ihn in Relation zu Max Mustermann setzen kann, wird als Leser philosophisch enorm von Über Leben profitieren.

Reinhold Messners Weisheit ist in erster Linie durch das Leben gewachsen, aber auch durch das Lesen. Nicht umsonst ist dem dritten Abschnitt ein Sinnspruch vorangestellt, der Hölderlin, jenem lyrischen Solitär zwischen Idealismus und Romantik, zugeschrieben wird: „Ich habe es mir zum Gesetz gemacht, nach meinem inneren Gesetz zu handeln, unbekümmert, welchen Anstrich es mir gibt und ob es nicht falsch verstanden wird.“

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Reinhold Messner ::: Über Leben (Malik-Verlag/National Geographic; 2016). 336 S. Taschenbuch: € 14,99 .-

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Reinhold Messner (*1944) stand als erster Mensch auf sämtlichen 14 Achttausendern (1970 – 1986, alle jeweils in kleinen Teams oder nur mit einem Partner, sowie ohne Flaschen-Sauerstoff und Fixseile); 1970 durchstieg er mit seinem Bruder Günther als erster die höchste Steilwand der Erde (Rupalwand am Nanga Parbat, 4500 m hoch); traversierte als zweiter einen Achttausender (Nanga Parbat); traversierte als erster, gemeinsam mit Hans Kammerlander, gleich zwei Achttausender (Gasherbrum II und I) auf einmal; bestieg als erster Mensch solo einen Achttausender vom Base Camp bis zum Gipfel und wieder retour (ebenfalls Nanga Parbat über die Diamirwand, 1978); veränderte in der Nachfolge von Hermann Buhls Alpinstil das weltweite Höhenbergsteigen; erreichte 1978, gemeinsam mit Peter Habeler, als erster den Gipfel des Mount Everest ohne künstlichen Sauerstoff, wiederholte diese Leistung 1980 im Alleingang über die Nordflanke und durchquerte zu Fuß die Wüste Gobi, Grönland und die Antarktis. Von 1999 bis 2004 vertrat er die italienischen Grünen als Abgeordneter des Europa-Parlaments und eröffnete zwischen 2003 und 2015 sechs Museen in Südtirol, die sich inhaltlich mit der Beziehung Mensch-Berg auseinandersetzen. Messner ist Vater von vier Kindern, selbstversorgender Bergbauer und dreht neben seiner Tätigkeit als Autor und Vortragender auch alpinhistorische Dokumentationen. Er lebt in Meran und auf seiner Burg Juval.

 

 

Weiterhören: Im Weltwach-Podcast mit Erik Lorenz erzählt Reinhold Messner über seine bislang sieben Leben und seine Auffassung von Abenteuer.

 

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Published in Allgemein

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