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Ferdinand von Schirach ::: Kaffee und Zigaretten

Man sollte den 1964 in München geborenen Strafverteidiger, Romancier und Dramatiker Ferdinand von Schirach schon einmal bei einer Lesung oder in einem Interview erlebt haben: sanft, scheu und ein bisschen boshaft; voll geistesgegenwärtigem Charme und geduldiger Erwartung der nächstmöglichen Rauchpause.

Zur Veranschaulichung eine Szene aus einer TV-Reportage: Anselm Kiefer und Ferdinand von Schirach sitzen im weichen Bernsteinlicht eines südfranzösischen Sonnenuntergangs, vor dem baumbestandene Hügel dem Abend entgegen träumen. Schirach: „Das ist jetzt so Natur, wie ich es gern habe. Auch weit genug weg.“

Schirach, der mit Verbrechen, Schuld und Der Fall Collini internationale Bestseller landete, hat es sich in seiner Melancholie einigermaßen gemütlich gemacht, einer „schönen, milden Gesamttraurigkeit“, wie Felix Stephan in der Süddeutschen meinte.
Aus seiner eigenen chronischen Depressionserkrankung macht Schirach kein Geheimnis und das wirkt beruhigend in einer Zeit der turbokapitalistischen Selbstoptimierung mit Grinsekrampf. Das Leiden an der Welt und am Leben liefert ihm unentwegt Gelegenheit für ein verschwörerisches Miteinander, wenn man bloß bereit ist, den Weg zu gehen: den schonungslos ehrlichen und direkten von einem einsamen Herzen zum anderen.

 

Graue Lagune: Eines der Gemälde der deutschen Kunstgeschichte, das die Vereinzelung des modernen Menschen par excellence darstellt, ist der „Wanderer am Gestade“. Es hängt in der Alten Nationalgalerie in Berlin und es sei, so Schirach, sein Seelenbildnis. Über sein zwischen 1808 und 1810 entstandenes Werk sagte der romantische Maler Caspar David Friedrich: „Mit übermütigem Dünkel wähnst du der Nachwelt ein Licht zu werden, zu enträtseln der Zukunft Dunkelheit! Was heilige Ahnung nur ist, nur im Glauben gesehen und erkannt; endlich klar zu wissen und zu verstehen! Tief zwar sind deine Fußstapfen am öden sandigen Strande; doch ein leiser Wind weht darüber hin, und deine Spur wird nicht mehr gesehen: Törichter Mensch voll eitlem Dünkel!“
Foto: Tom Wagner

 

Grund zur Verzweiflung gibt es genug und oft genug braucht Verzweiflung gar keinen Grund. Die Unauslotbarkeit der Menschennatur; die kalte Brutalität des konservativen Backlash in Politik, Ökologie und Kultur; die ostentative Abwesenheit einer gütigen Gottheit und damit die hohe Wahrscheinlichkeit, dass der uns allen bevorstehende Tod nichts anderes sein kann, als eine traumlose Vollnarkose. Bis in alle Ewigkeit.
Ferdinand von Schirachs emotionale Rettung ist und bleibt das Trotzdem – als Akt ruhiger und routinierter Auflehnung.

Nach der anstrengenden Arbeit an zwei Theaterstücken (Terror und Gott) und an seinem Opus Magnum, dem Welterfolg Tabu (2013) war Schirach nicht mehr nach dem Rollen großer Felsen zumute. Er wandte sich den kleinen Formen zu – den bemerkenswerten Steinen, die man beim Spaziergang am Strand aufliest, sie herumdreht und manche von ihnen in die Tasche gleiten lässt, um sie zu Hause am Fensterbrett miteinander in Beziehung zu setzen, je nach Farbe, je nach Form. 

So veröffentlichte er Kurzgeschichten und Essays, tat sich mit Alexander Kluge zusammen und arbeitete mit dem befreundeten Juristen, Filmemacher und Schriftsteller an einem Gesprächsband mit dem Titel Die Herzlichkeit der Vernunft, dem 2020 Trotzdem nachfolgte.

Dazwischen veröffentlichte er 2019 im Verlag Luchterhand einen schmalen und sehr persönlichen Erzählband, der auch als von Lars Eidinger eingelesenes Hörbuch erhältlich ist: Kaffee und Zigaretten. (Mit Nachmittage legte Ferdinand von Schirach 2022 übrigens mehr vom selben vor, mit wechselhaftem Gelingen, wie ich finde.)

Die Handlung von Kaffee und Zigaretten setzt sich aus Erinnerungen, Begegnungen und Gerichtsfällen zusammen. Schreckliches und allzu Schreckliches, erstaunliche Parallelen und bestürzende Schicksalswendungen werden hier erzählt, so auch Betrachtungen zu seiner unseligen Familiengeschichte und Schirachs tragikomisch geschilderter Suizidversuch als Teenager. Aber auch lichte Momente existenzieller Helle und das instinktive Aufnehmen von roten Fäden, die durch die Handlung des Lebens führen.

Etwa die Volte von seinem liebsten Sommerfilm, Jacques Derays La Piscine (1969), und einem betrunkenen Mick Jagger in einem Londoner Kino, der mit den Stones gerade Emotional Rescue (1980) veröffentlicht hat, zu Luca Guadagninos Remake von La Piscine, A Bigger Splash (2015), in dem Ralph Fiennes als dampfplappernder Musikproduzent eine enthemmte Karaokeversion von Emotional Rescue zum Besten gibt. 

Dergestalt entsteht, universell und unsystematisch wie Montaignes Essays und stroboskopisch wie Roger Willemsens Momentum, eine scheinbar lose und beiläufig kühl erzählte Autobiografie auf nur 190 Seiten. Sie mäandert zwischen Heidegger und Haneke, Romy Schneider und Tilda Swinton, zwischen Kindheitserinnerungen, Traumata, Popkultur und skurrilen Rechtsfällen.

Kaffee und Zigaretten ist eine Aneinanderreihung von elegant geführten Kamerafahrten durch die Räume von Schirachs Lebensgebäude. Der langsame Tarkowski-Zoom und der rasche Seitenschwenk wechseln einander ab. Stete Wegbegleiter bei Schirachs innerer Rundschau: Kaffee und Zigaretten. Auf diese Verbündeten in Triumph und Niederlage ist immer Verlass. 

Ein Beispiel für die Auflehnung, für das Trotzdem in diesem Erzählband nimmt sich Schirach am Literaturnobelpreisträger Imre Kertész, der das KZ überlebte, mit Krankheit, Einsamkeit und Alter haderte und alles über den Tod zu wissen schien. Und der trotzdem sein allabendliches Mahl, wenn auch allein, so doch ausschließlich gut gekleidet und am sorgfältig gedeckten Tisch einnahm. Als Wahrung der Form, als letzten Halt.

Halt findet auch der Schriftsteller Schirach in der Form: Manche seiner 48 in wunderbar entschlacktem Stil erzählten Geschichten in Kaffee und Zigaretten lesen sich wie jene kondensierten Momente, die Vladimir Nabokov in einem Interview als so köstlich beschrieb: „Auf meiner Jagd nach Schmetterlingen an den Berghängen der Schweiz gerate ich in ein Vakuum, in das alles strömt, was ich liebe.“ 

Bloß sind diese kondensierten Atmosphären bei Schirach selten Ekstasen des Daseinsglücks wie bei Nabokov, sondern irritierende Vignetten, die seine Leserschaft unaufdringlich, aber unausweichlich mit bohrenden Fragen konfrontieren: Was ist Würde? Was ist Gerechtigkeit? Welche Momente entscheiden über die Richtung unseres Lebensweges? Was kann der Mensch alles sein?
Ferdinand von Schirach: „Der Mensch kann ja alles sein, er kann Figaros Hochzeit komponieren, die Sixtinische Kapelle erschaffen und das Penicillin erfinden. Oder er kann Kriege führen, vergewaltigen und morden. Es ist immer der gleiche Mensch, dieser strahlende, verzweifelte, geschundene Mensch.“

 

Published in Allgemein

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