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Christoph Ransmayr ::: Atlas eines ängstlichen Mannes

Christoph Ransmayr, österreichischer Romancier mit Neigung zum klassischen, antiken Kanon (Die letzte Welt), zu Naturwissenschaften und Expeditionen (Die Schrecken des Eises und der Finsternis, Der fliegende Berg), ist von Jugend an mit einer rastlosen Reiseleidenschaft gesegnet.

In seinem Atlas eines ängstlichen Mannes führt er der Leserschaft vor Augen, wie vielfältig, gefährlich, stimmungsvoll und mysteriös unser Planet ist, den er so unentwegt bereist. Aber auch wie zerbrechlich die Existenz darauf ist und wie grausam und verstörend die Handlungen der Menschen sein können – nicht zuletzt gegenüber Tieren. Tiere spielen demnach auch tragende Rollen in Ransmayrs Reise-Vignetten: Hummer, Riesenschlangen, indische Flughunde, verwaiste Pferde, grausam-verspielte Katzen und Albatrosse, die das Fliegen erst im Fallen lernen.

Atlas eines ängstlichen Mannes ist eine Sammlung von Reiseerzählungen, die Reportage, Dichtung, historische Abrisse und Landschaftsbeschreibungen vereint. Es ist ein Buch von lyrischem Atem und erzählerischer Kraft, das zwischen allen kategorischen Sesseln bequem am Boden sitzt. Dennoch ist es alles andere als ein bequemes, angenehmes Buch. Manche andere Vielleser, mit denen ich über Ransmayr gesprochen habe, finden seine Werke humorlos und schwerblütig, und diese Aspekte lassen sich auch bei diesem Buch nicht gut abstreiten.

Denn durchaus auch entsetzliche und apokalyptische Szenen werden in seinen Kapiteln beschrieben, an deren Eingang bezeichnenderweise stets das ans Johannes-Evangelium gemahnende, visionäre ”Ich sah…“ steht. Und da wo sich überwältigende Erhabenheit über unsere Häupter erhebt, gibt es bekanntermaßen oft wenig zu lachen. Man liest aber auch nicht Kafka oder Melville, wenn sich das Bedürfnis meldet, zu schmunzeln oder gar schallend zu lachen. Dass Christoph Ransmayr jedoch in Interviews und in der persönlichen Begegnung sehr witzig und selbstironisch sein kann, sei am Rande vermerkt.

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Christoph Ransmayr (*1954) wuchs am Traunsee auf. Er studierte Philosophie in Wien und lebte viele Jahre lang in West Cork, Irland. Seine literarische Arbeit begann er als Kulturredakteur und als Verfasser von Reportagen und Essays für Zeitschriften wie TransAtlantik, Merian und GEO. Seine Romane wurden bisher in 26 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien von ihm: Cox: oder der Lauf der Zeit

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In siebzig Episoden, die allesamt Wahrheitsanspruch stellen und an viele exotische Ränder der Erde führen, legt Ransmayr seine Abenteuer, Begegnungen, Aperçus und schicksalshaften Zufälligkeiten (oder Synchronizitäten?) vor.

Als Begleiter durch die Seelenlandschaften einer gefallenen Welt zwischen Glück und Schicksal, Traum und Wirklichkeit, Rettung und Verderben führt Ransmayr seine Leser*innen ins hocharktische Packeis, auf chilenische Passhöhen, unter die Vulkane Javas, zu den schlafenden Buckelwalen vor Haiti, ans Ufer des nepalesischen Phoksundo-Sees, auf gottverlassene Eilande in der Südsee, zum Grab Homers auf Ios, auf die verschneite Chinesische Mauer, zu balinesischen Festlichkeiten, auf eine brasilianische Farm oder unter einen gigantischen Sternenhimmel in Ransmayrs heimatlichem Höllengebirge.

Jede einzelne Episode ist feinmechanisch mit einer Überraschung, einer (manchmal erschreckenden) Pointe, oder einer metaphysischen Erleuchtung versehen. Doch es ist nicht nur die erzählerische Geschicklichkeit eines Uhrmachers und die schier überwältigende Breite dieses Weltpanoramas, was mich an diesem Buch begeistert. Vielmehr ist es wieder einmal die Erkenntnis, dass Ransmayr wohl den geschliffensten, klarsten und zeitlosesten Schreibstil pflegt, der im deutschsprachigen Raum zwischen zwei Buchdeckeln zu finden ist. Zudem ist er ein Meister der Bildkraft und der Satzmelodie.

Christoph Ransmayr über das Erzählen: „Wie immer das Menschsein definiert wird, erst durch die Sprache sind wir geworden, was wir sind, auch wenn der Unterschied zwischen der Wirklichkeit und ihrem sprachlichen Ausdruck nicht größer sein könnte – im Wort Ozean ist schließlich noch kein Schiff gesunken und vom Wort Eiswand noch keiner in die Tiefe gestürzt. Der Zauber der Verwandlung von etwas in Sprache lässt Bilder in uns entstehen, durch die wir die Welt eines anderen betreten oder ihn erzählend in unsere eigene holen und so nicht nur Ahnungslosigkeit und Schweigen, sondern auch die Einsamkeit und Verlassenheit des Einzelnen überwinden können. Und alles, was wir für dieses Wunder brauchen, ist eine Stimme und ein Ohr.“

 

Der Autor liest aus Atlas eines ängstlichen Mannes im Literaturhaus Basel, 2012

Reisen. Fotos von unterwegs: Christoph Ransmayr im Literaturarchiv Marbach, 2014

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Christoph Ransmayr ::: Atlas eines ängstlichen Mannes
(S. Fischer Verlag; 2012). Auch als Hörbuch, vom Autor gelesen, sehr empfehlenswert. Als Anlesetips empfehle ich folgende Episoden: Herzfeld, Das Erlöschen einer Stadt, Das Attentat, Luftangriff, Ein Kreuzweg, Blut, Der Schreiber, Die Ankunft.

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Published in Allgemein

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