I am tired, I am weary
I could sleep for a thousand years
A thousand dreams that would awake me
Different colors made of tears
– The Velvet Underground
New York City im Sommer 2000. Eine namenlose junge Frau beschließt, ein Jahr lang aus der Welt zu verschwinden. Ihre Strategie: schlafen. So viel wie möglich.
Sie will an der Gesellschaft und am Leben nicht mehr teilnehmen, ganz im Sinne des japanischen Hikikomori, aber auch wie Hamlet, der die Reize des (ewigen) Schlafes abwägt oder Melvilles Bartleby, der sich für ein allzu konsequentes „lieber nicht“ als Lebensmotto entscheidet.
Dabei hätte die namenlose junge Frau wirklich alles, um das bestmögliche Dasein in der Stadt, die niemals schläft, zu verwirklichen: Sie lebt in einer schönen Wohnung an der Upper East Side, hat gerade ihr Studium der Kunstgeschichte an der Columbia Universität abgeschlossen und sieht aus wie eine fünfundzwanzigjährige Faye Dunaway. Ein paar Tage in der Woche arbeitet sie in einer hippen Galerie für moderne Kunst, obwohl sie das gar nicht müsste, da sie nach dem Tod ihrer lieblosen und wohlstandsverkorksten WASP-Eltern ein kleines Vermögen geerbt hat. Was also ist da bloß schiefgelaufen?
Ich weiß nicht genau, ob ein konkretes Ereignis zu meiner Entscheidung führte, Winterschlaf zu halten. Anfangs wollte ich nur ein paar Downer, um meine ewig kritischen Gedanken zu ersticken; der stetige Ansturm in meinem Hirn machte es mir schwer, nicht alles und jeden zu hassen.
Beim Lesen von Ottessa Moshfeghs hard-boiled Satire entsteht eine fast augenblickliche Konträrfaszination für die Hauptfigur, die auf sehr New Yorker Weise knallhart und alles andere als sympathisch ist – zynisch, verwöhnt und verdammt schlau. Wobei wir ja wissen: Zynismus ist die Tarnkappe der Traurigkeit.
Den Beginn ihres Dornröschen-Experiments markiert sie dadurch, dass sie zunächst einmal im wahrsten Sinne des Wortes auf ihren Job scheißt und ihre Wohnung nur noch verlässt, um Naschereien und Milchkaffee aus einem ägyptischen Eckladen zu holen. Alle paar Monate trifft sie die Psychiaterin Dr. Tuttle, die selbst mehr als nur ein bisschen plemplem ist und in einer Verfilmung des Buches (Margot Robbie hat sich die Rechte bereits gesichert) unbedingt von Fran Lebowitz gespielt werden muss.
Von Dr. Tuttle erhält sie, im Austausch mit raffiniert übertriebenen Beschreibungen ihres Seelenzustandes, ein wahres Arsenal an Antidepressiva, Schlaf- und Beruhigungsmitteln. Ihre nebulösen Wachzustände zwischen den pharma-induzierten Blackouts vertreibt sie sich mit dem endlos wiederholten Abspielen von VHS-Kassetten – vorzugsweise Filme mit ihren Helden Harrison Ford und Whoopi Goldberg, die so etwas wie emotionale Stabilisatoren für sie sind.
In New York City war so einiges los – wie immer –, aber nichts davon ging mich etwas an. Das war das Schöne am Schlafen – die Realität hatte nichts mehr mit mir zu tun und spielte für mein Bewusstsein keine größere Rolle als ein Film oder ein Traum. Es fiel mir leicht, alles zu ignorieren, was mich nichts anging. Die U-Bahnfahrer streikten. Ein Hurrikan zog auf und wieder ab. Es spielte keine Rolle. Aliens hätten landen, eine Heuschreckenplage hätte einfallen können, und ich hätte es zwar bemerkt, mir aber nicht den Kopf darüber zerbrochen.
Ihr einziger tatsächlich zwischenmenschlicher Kontakt ist ihre Jugendfreundin Reva, die ihr ganz in Anbetung ihrer Schlankheit, Coolness und finanziellen Sorglosigkeit ergeben ist. Reva ist die typische, nicht so hübsche Freundin im Schlepptau einer hübschen Alphafrau, treu wie ein Retriever und ebenso tiefgründig.
Dann gibt es auch irgendwo da draußen im manischen Manhattan (quasi als kalten Ken zu ihrer boshaften Barbie) einen Fuckbuddy namens Trevor: ein neokonservatives Machtmännchen, das in einem der Twin Towers arbeitet. Trevor sieht aus, als würde er Shampoo trinken und nimmt sich so wichtig, dass man meinen könnte, er trage eine Visitenkarte von Patrick Bateman im Portemonnaie. Auch behandelt er die Erzählerin nicht nur schlecht, er betrügt sie noch dazu am laufenden Band. Bezeichnenderweise scheint sie gerade das an ihm zu mögen.
Immer tiefer taucht sie ab in die Zwielichtzone zwischen Tiefschlaf und Dämmerzustand und bemerkt, dass sie ein somnambules Eigenleben zu führen beginnt. Während sie schläft oder schlafwandelt, fließt die Zeit weiter, so wie in Washington Irvings Geschichte des Rip Van Winkle, und hinter den geschlossenen Gardinen ihres Apartments kommt das einschneidende Datum 9/11/2001 am zeitlichen Horizont immer näher… Ob es unserer namenlosen Lebensmüden gelingt, ihre seelische Erneuerung zu verwirklichen? Das soll hier nicht verraten werden.
Wurde ich wach, tagsüber oder nachts, durchquerte ich das helle Marmorfoyer unseres Hauses und ging die paar Schritte zur Bodega um die Ecke, die immer geöffnet hatte. Ich kaufte zwei große Kaffee mit Milch und jeweils sechs Stück Zucker, trank den ersten schnell im Aufzug hoch zu meiner Wohnung und den zweiten dann in aller Ruhe, während ich Filme schaute, Animal Crackers aß und Trazodon und Ambien und Nembutal schluckte, bis ich wieder einschlief. Auf diese Weise verlor ich jegliches Zeitgefühl. Tage vergingen. Wochen. Ganze Monate.
Sehr ähnlich wie der geniale Autor und Regisseur Mike White in seiner HBO-Serie The White Lotus ist es unmöglich, sich mit einer von Moshfeghs handelnden Figuren dauerhaft zu identifizieren. Genau wie The White Lotus erlaubt uns das Figurenensemble in Mein Jahr der Ruhe und Entspannung nur Momente des Nachempfindens von bestimmten und sehr akuten Emotionen. Gute Protagonisten versus böse Antagonisten – dieses Schablonendenken war noch nie modern und hat noch selten gute Literatur hervorgebracht. Unsere Sympathien erkalten und erwärmen sich in raschem Wechsel: Jede Person ist mal liebenswert, mal grausam und manchmal auch liebenswert grausam. Nicht nur erzählerisch ist das Buch auf der Höhe der Zeit, auch psychologisch hat sein Erscheinen einen Nerv getroffen. Denn das Aushalten in unserem ganz privaten Lethefluss haben wir in den vergangenen drei Jahren nur allzu genau lernen müssen.
Ottessa Moshfegh ist eine Meistererzählerin mit zweitausendundein Pointen im Hinterstübchen und einem tiefen Verständnis für die doppelten Böden der westlichen Konsumgesellschaft und deren sorglosen Umgang mit Medikamenten und Feelgood-Terror. Sie ist Fachfrau für das geheimgehaltene Denken, welches laut Thomas Bernhard das entscheidende ist. Ihr Humor ist weniger schwarz als vielmehr obsidian und macht dieses Buch zu einem der lustigsten Werke über Daseinsüberforderung, das in unserer überfordernden Zeit entstanden ist.
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