In einem Publikumsgespräch unter der Leitung des Schriftstellers Pico Iyer kommt der große, deutsche Filmemacher Werner Herzog begeistert auf die Qualität seiner eigenen Texte zu sprechen. Etwas, was dem überbescheidenen Prosa-Profi Iyer nie und nimmer in den Sinn käme. Seine Texte würden sein Filmwerk an Wucht und Eindringlichkeit lange überdauern, meint Herzog, der auch nicht davor zurückschreckte, sich an anderer Stelle als einen der bedeutendsten Filmemacher aller Zeiten zu bezeichnen.
„Heutzutage gibt es niemanden“, spricht Herzog, „der solche Prosa schreibt wie ich. Nirgendwo. In keinem anderen Land, in keiner Altersgruppe … Ich sollte jetzt besser nichts mehr sagen, aber es ist einfach wirklich guter Stoff!“ Schweigen, vereinzeltes Lachen, spärlicher Applaus im Publikum. Werner Herzog meint es offenbar ernst. Pico Iyer, fürsorglich und höflich wie immer: „Lassen Sie mich Ihnen aus der Patsche helfen und lassen Sie uns über Erleuchtung sprechen.“
Wir wollen diese Szene einmal so stehen lassen. Doch wenn wir genauer hineinhören in Herzogs Worte und uns sein filmisches und literarisches Werk vor Augen führen, müssen wir zugeben: Der Mann hat recht. Sein Stil, zu denken und zu erzählen, ist unverwechselbar und unnachahmlich. Das gilt auch für seine Stimme und seine Sprechweise. Probieren Sie es doch einmal aus, in einer freien Stunde. Ich wette, Sie werden seine geisterhaft beschlagene Stimme, das Dehnen der Umlaute, das bayrische Hochlupfen der Wortenden und die kalifornisch rollenden Rs seines Englischs nicht hinbekommen. Ich schaffe es auch nicht, habe aber immer Spaß bei meinen Versuchen.
Herzog ist ein der Welt Fremder, ein Merkwürdiger im besten Sinn. Ironie lässt er sich von niemandem gefallen, sie ist in seinen Augen ein Paar Schwimmflügel für Nichtschwimmer. Mannesstarker Pathos und die Hinwendung zum ewig Gültigen sind in seinem Naturell festgelegt und führten ihn aus dem hintersten Tal zwischen Bayern und Tirol hinaus in die Filmwelt, in die Arktis, in den Dschungel und vielleicht demnächst ins All.
Die Welt ist für Werner Herzog selbstverständlich ein Wunder – auch wenn es der Gefährlichkeit wegen mit Zangen angepackt werden muss. Diese Eigenschaft, stets alles neu zu sehen, ist es, die ihn zum Dichter macht, zum „Mann, der den Himmel erklimmen kann“, wie es im Gilgamesch-Epos heißt. Egal ob im Medium Film oder im Medium der Literatur. „Ein Film ist nie wirklich gut, solange die Kamera nicht das Auge im Kopf eines Poeten ist“, meinte Orson Welles einmal.
„Öffnen Sie das Fenster, seit einigen Tagen kann ich fliegen.“
Im stürmischen November 1974 hört Werner Herzog, dass die bedeutende deutsche Filmkritikerin Lotte Eisner in Paris im Sterben liege. Also stattet sich Herzog mit neuen Wanderschuhen, einem Matchsack und einem Kompass aus und beschließt, direttissima nach Paris „gegen das Sterben der Eisnerin anzugehen“.
Von München führt ihn sein Weg durch das vorwinterliche Süddeutschland und immer weiter Richtung Frankreich, durch Graupel, Schnee und Eis, durch Regen und Sonnenschein. Er beschreibt seinen seelischen Zustand, die Schmerzen in den Beinen, den Kampf gegen die Blasen in seinen noch nicht eingelaufenen Stiefeln, die bittere Kälte, die Begegnungen mit Dörflern, Polizisten und Kindern, mit misstrauischen Wirtshausgästen und Wildtieren.
Die Sprache, mit der er in seinem Tagebuch von der dreiwöchigen Fußwanderung nach Paris berichtet, ist, wie ihr Autor, ungewöhnlich. Sie lebt von aus der Zeit gefallenen Wendungen, spart jedoch die Last von Assoziationsketten aus: Herzog bleibt auch erzählerisch am Weg, gestattet sich keine Abweichung, keine Rast, keine Anekdote, denn seine Aufgabe ist eine wichtige. Sie verlangt ihm eine klaglos hingenommene Härte gegen sich selbst ab. Was hervorsticht in seiner Selbstbeobachtung, ist das Präzise, das zuweilen Pedantische und restlos Überzeugte seiner doch einigermaßen irrationalen Unternehmung.
Wie seine Geistesverwandten und Weggefährten Reinhold Messner und Bruce Chatwin (der ihm übrigens seinen ledernen Rucksack weiterreichte), ist Herzog ein leidenschaftlicher Fußgänger. Wer zu Fuß geht, dem erschließt sich die Welt, denn das Gehen ist die angemessenste Form der Fortbewegung für den Menschen, so Herzog. Bewandert und belesen, macht er sich die Welt nicht zu eigen, sondern erkundet sie, liest sie, nimmt sie wahr. Seine Augen, wach und scharf und ein wenig kalt unter ihren kapuzenhaften Schlupflidern, sind seine Zeugen, seine Augenzeugen.
Ein paar Kostproben: „Der Sturm wurde so gewalttätig, dass ich mich nicht erinnern kann, je so etwas erlebt zu haben. Ein schwarzer Morgen, verdüstert, so düster und kalt legt sich ein Morgen nur nach einem großen Unglück, nach einer großen Seuche über die Felder. Die Hütte außen ist vom Schnee auf die Wetterseite zu vollgeweht, die Äcker tiefschwarz mit weißen Linien vom Schnee. Der Sturm war so stark, dass der Schnee gar nicht bis in die Furchen hinunterkam. Tiefe, jagende Wolken. (…) So eine Verdüsterung habe ich wahrhaftig noch niemals gesehen.“
„Flaches Land, nur Krähen, sie schreien rund um mich, ich frage mich auf einmal ernsthaft, ob ich den Verstand verloren habe, weil ich so viele Krähen höre und so wenige nur sehe. Es ist eine Totenstille rings um, soweit ich hören kann, und da ist das Krähengeschrei. Ganz dunstig zeichnen sich die Höhenzüge der Vogesen ab. (…) Jemand fährt Heu mit dem Traktor. Die Kriegerdenkmäler sind meine Rast. Die Bäuerinnen reden viel miteinander. Die Bauern sind müde zum Tod. Immer sehe ich unbenutzte Busse. Also, sage ich, weiter.“
Werner Herzog meint es ernst. Mit jedem Film, mit jedem Satz in diesem einmaligen Buch, mit jedem Schritt im Eis.
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