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Emir Kusturica ::: Der Tod ist ein unbestätigtes Gerücht

 

Die Seele einer Stadt wird auf eine magische Weise immer nur von ganz wenigen Personen getragen. Und wenn man eine dieser Personen herausnimmt, so besteht die Gefahr, dass der Himmel herabstürzt und diese Stadt und die darin schlafwandelnden Menschen begräbt“, sagte Laudator André Heller bei einer Ehrung der Wiener Schriftstellerin und Kulturjournalistin Hilde Spiel. Ganz ähnlich verhält es sich mit Ländern und Regionen und kaum jemand trägt und verkörpert die Seele des Balkan so essenziell wie der unverwüstliche Emir Kusturica. Wobei wir hier natürlich auch ganz schnell bei Klischees sind, die sich stets außerhalb einer Region über diese bilden. 

Das ist auch der Kritikpunkt, den der slowenische Philosoph, Filmkenner und Psychoanalytiker Slavoj Žižek gegen Kusturica vorzubringen hat. Nämlich dass der meist in Frankreich lebende Regisseur die Klischees, die der Westen mit den Menschen des Balkan und deren Folklore verbindet, unverschämt ausbeute. Sein Film Underground (1995) bediene gar die hoffnungslos überzeichnete Vorstellung, in den ehemals jugoslawischen Ländern würde man Tag und Nacht auf Bankett-Tischen tanzen, Feuer spucken, vögeln und prächtige Schlägereien anzetteln.

Wuchtig, derb und deftig sind Kusturicas Filme allemal und so verhält es sich auch mit seinen Memoiren, die er 2010 unter dem Titel Smrt je neprovjerena glasina (deutsch: Der Tod ist ein unbestätigtes Gerücht) niederschrieb. Schon das erste Kapitel trägt den Titel Erde und Tränen, und macht ganz klar, auf welchem geschundenen Flecken Erde der leidenschaftliche Serbe sein Seelenland verortet. Doch so sehr er mit der Scholle verbunden ist, Kusturica liebt es, vom Boden abzuheben. Fliegen, Schweben, die Welt von oben sehen: Das ist bekanntlich das Kino des Emir Kusturica.

Wenig erstaunlich: Jene balkanischen Vorurteile sind genau der Stoff, aus dem Kusturicas Erinnerungen gestrickt sind, etwa der stets präsente selbstgebrannte Schnaps; der billige Perserteppich in der Elternwohnung, der von Kusturicas (hinreißend beschriebener) Mutter Senka vor Besuchen mit Plastikfolie überdeckt wird; Greisinnen, die selbst nach dem dritten Schlaganfall mit Zigaretten bei Laune gehalten werden; der Vater Murat Kusturica, ein leidenschaftsloser Beamter und leidenschaftlicher Müßiggänger, der seit Jahrzehnten auf eine größere Kommunalwohnung wartet, obwohl sein Sohn bereits den Silbernen Löwen von Venedig und die Goldene Palme von Cannes gewonnen hat; die Verehrung für den Astronauten Juri Gagarin, der sich, der Schwerkraft trotzend, mit Erfolg vom Erdball gelöst hat; die Jugendfreunde, die einen dalmatinischen Inselabschnitt in Beschlag nehmen, „besoffen wie die Äffchen“; die Massenschlägerei am Strand der Croisette bei den Filmfestspielen von Cannes, 1995, nachdem ein Landsmann Kusturicas der sich betrunken-dionysisch im Sand räkelnden Carole Bouquet auf etwas zu entschlossene Art den Hof macht. Kommentar seines Regie-Kollegen Jim Jarmusch: „Wie kann man seinen Triumph in Cannes bloß auf diese Weise feiern?“

Seine wilde Straßen-Kindheit beschreibt Kusturica märchenhaft und surreal und wer jetzt an Federico Fellini denkt, hat eigentlich schon die halbe Karriere Kusturicas kapiert. Ein weiteres Kapitel ist dann auch jenem großen Italiener gewidmet, dem man übrigens mit Žižek auch den Ausverkauf der italienischen Lebensart vorwerfen könnte, sind seine Filme ja besonders lebensprall und so „typisch italienisch“ wie eine Pietro-Pizzi-Werbung, wenn auch auf künstlerisch stratosphärisch hohem Niveau.

 

Über dem Leben schweben

So erzählt Kusturica wie er drei (!) Vorführungen des Fellini-Klassikers Amarcord verschlief, aus übergroßer Vorfreude darauf, sodass ihn seine Sinne verließen, sobald der Kinosaal verdunkelt wurde. Andere Geisteshelden, über die er in seinem Buch ins Schwärmen gerät, sind der Schriftsteller Ivo Andriç (dessen Brücke über die Drina womöglich Kusturicas prägendste Lektüre war), der Punk-Poet Joe Strummer (The Clash) und Rainer Werner Fassbinder, dessen exzessive und spontane Art Filme zu drehen, großen Einfluss auf Kusturicas eigenes Schaffen hatte. 

Kunst muss Kusturica mit der Wucht eines Meteors treffen, muss seine Welt auf den Kopf stellen. Nicht umsonst übt er sich als junger Bursche nachts auf einem Aussichtshügel über Sarajevo darin, auf dem Kopf zu stehen, um die altbekannte Stadt verkehrt herum und in neuer Perspektive zu sehen: als irdischen Sternenteppich über ihm, die Füße ins unendliche Firmament darunter ausgestreckt.

 

„Liebe, du Idiot!“

 

Im Zentrum seines Schaffens steht der Wunsch, die Dinge des Lebens in neuem Licht zu zeigen. Nichts weniger als das: „(Nachdem ich Amarcord endlich gesehen hatte), legte ich an alles, was in meiner Kinolaufbahn passierte, diesen Maßstab an. Die wichtigsten Ereignisse meines Daseins schnellten auf der Lebensbörse sichtbar in die Höhe … Mutter, Vater, Haus, Freunde, aber auch alles, was einfach so an meiner Seele hängenblieb: Alleen, Gebirgsgegenden, Frauenhintern, Fahrräder, Gotteshäuser, Brücken, Züge, Autobusse, und auch alles, was ich nicht mochte: Krawatten, Hochhäuser, Backöfen, Schulen, Krankenhäuser und schließlich alles, was für mich einen Wert hatte: Edelmut, Courage, Geschichte, Musik. All dies entdeckte ich nun neu.“ 

Diese radikale Neuentdeckung des Lebens überträgt sich auch auf sein Publikum: „Die Menschen (…) freute vor allem der Gedanke, dass man ihr Drama, die Porträts ihrer Väter, Mütter und Schwestern und ihrer Lebenssituationen nun überall in der Welt entdecken und verstehen würde. So wie das Meer nach dem Sturm vertraute Gegenstände an den Strand spült, ließ die Zeit (in meinem Film) auf wunderbare Weise die Ereignisse und Gegenstände ihres Daseins vor ihren Augen wiedererstehen, und zwar in einem schärferen und gänzlich neuen Licht.“

Überhaupt: Die Metaphorik in Kusturicas Buch ist der seiner Filme wunderbar ähnlich und seine Schreibe erinnert manchmal an den pulsierenden Stil von Philippe Djian. Über das Traurigsein schreibt Kusturica, es sei wie eine vornübergebeugte Straßenlaterne mit einem Wackelkontakt, die „ein trübes, flackerndes Licht“ werfe. Wie treffend, der Vergleich. Derartige Bilder beleben sein Buch und heben die Leserin auf eine höhere Seinsebene, lassen uns über unserem eigenen Leben schweben.

 

Die Lage ist kompliziert

Politisch korrekt ist Kusturica wirklich nicht, in vielen seiner Interviews gebart er sich sogar als erklärter Feind des politisch Korrekten, das dem modernen Leben „das Mark aus den Knochen sauge“. Und über Frauen schreibt der Regisseur in seinen Erinnerungen so einiges, das nichts für die Ohren von Sophie Passmann wäre: „Ich sah Maja an und richtete den Blick anschließend auf den Boden, wo er auf ihre Beine traf. „Auf solchen Beinen hätte das Königreich Jugoslawien viel länger Bestand gehabt“, hatte ein Schaffner einmal Maja zugerufen, als sie mit dem Bus vom Koševo ins Stadtzentrum gefahren war. Dieser monarchistische Schaffner hatte völlig recht.“ 

Apropos monarchistische Schaffner, diesmal alt-österreichische: „Die Österreicher hatten die Familie mit der ersten Eisenbahn aus Slowenien hergeschafft, weil die hiesige Bevölkerung den Wiener Autoritäten kein Vertrauen einflößte. (…) Jetzt sollte Schluss sein mit geschäftlichen Verabredungen wie „Wir machen es im Lauf der Woche aus…“ Das sichtbarste Anzeichen dieser Veränderung war die Eisenbahn: Der Zug kam eben nicht „im Lauf der Woche“, sondern exakt um acht Uhr und genau eine Viertelstunde später fuhr er wieder los.“ Insgesamt kommen gerade die Österreicher in diesem Buch bei Kusturica und seinen Landsleuten erwartungsgemäß eher schlecht weg. Dafür schätzt man aber deren hohe, kühle Wohnungen und Häuser in der flirrenden Sommerhitze des Balkan.

Doch weiter beim Anbahnen von Beziehungen zwischen Mann und Frau: „Frauen plappern gerne. Die Männer fragen sich oft, warum manche ihrer Geschlechtsgenossen Erfolg bei Frauen haben und andere nicht. Abgesehen von den mystischen Dingen, die einen Mann und eine Frau aneinanderbinden, ist die Kondition des Mannes beim Plaudern von entscheidender Bedeutung. (…) Du darfst nur nicht nachgeben, musst plappern und plappern und so tun, als würde dich jeder Blödsinn persönlich etwas angehen, und dann musst du nur noch warten, bis die Frau weichgekocht ist. Der Erfolg ist unausweichlich.“ Worte, die fast vom Profi-Aufreißer Paul Leger (gespielt von Vincent Gallo) aus Arizona Dream (1992) stammen könnten.

Mit Johnny Depp, dem Hauptdarsteller aus diesem Tschechow-inspirierten Film verbindet ihn bis heute eine enge künstlerische Bruderschaft. Nahtlos mischt sich der selbsterklärte White-Trash-Gypsy aus Kentucky bei einem langen Besuch in Sarajevo 1993 unter das Partyvolk: „Auch Johnny war fröhlich; er hielt schon ein Ćevapčić in der Hand, und mein Trauzeuge Zoran Bilan, ein Riese in jeglicher Hinsicht, schenkte ihm Schnaps ein und prostete ihm zu: „He, Amerikaner, lass uns einen heben!“

 

Wuchtig, derb und deftig

Kusturica ist ein Liebender, ein Kämpfer, ein Dichter und ein Säufer. Daraus macht er gar kein Geheimnis: „So wie alle Provinzler, die sich nach einem großen Erfolg gehen lassen, begann ich es mit dem Alkohol zu übertreiben. Ich trank mit immer größerem Vergnügen, und das wurde bald gefährlich — weniger wegen des Alkohols als wegen meines Bedürfnisses, in der Öffentlichkeit Skandale zu provozieren. Einen besonderen Spaß machte ich mir daraus, in Kaffeehäusern auf Tito und den Staat zu schimpfen. (…) Bei jedem neuen Glas Vlahov stieß ich eine weitere Beleidigung aus. „Ich scheiße auf den Staat…“, sagte ich, aber Vater stand auf und fügte schnell hinzu: „Liechtenstein!“

Aus dieser Trinkfreudigkeit resultiert Kusturicas cinematische Vision, seine brantweinbefeuerte Bühnenpräsenz und so manche seiner sehr, sehr bedenklichen politischen Schulterschlüsse und Schnapsideen, die direkt dem Teufel vom Karren gefallen zu sein scheinen: Der Kuss der Statue des Sarajevo-Mörders Gavrilo Principo, die panslawistischen Handshakes mit Putin, die großserbischen Parolen während der Konzerte seiner Band und die sogar von seiner eigenen Familie beweinte Verehrung der Kriegsverbrecher Milošević und Karadžić (von denen er sich jedoch mittlerweile distanziert zu haben scheint). Der erste Satz im ersten Spielfilm Kusturicas, Erinnerst du dich an Dolly Bell? lautete nicht umsonst: „Genossinnen und Genossen, die Lage ist kompliziert!“

Doch auch ein anderes Genussmittel hat zentrale Bedeutung für diesen Liebhaber des Lebens: „Kaffee, den man mit Gleichgesinnten trinkt oder zumindest mit Menschen, die die Bedeutung des Rolling-Stones-Songs Start Me Up begreifen können. Ein Gespräch führen und dabei durch den Kaffee richtig wach werden, ohne dass die Gesprächspartner auf den Meinungsunterschieden groß herumreiten. Gerade deshalb mag ich eben meinen konsensualen Kaffee! Ohne ein solches Ritual verfällt der Tag ins Nichts, als hätte es ihn niemals gegeben.“

Leider jedoch sind die meisten seiner Landsleute „durch eine dörfliche Herkunft belastet“ und hören statt internationaler Popmusik sogenannten „Hirten-Rock“, eine Musik, die „im Niemandsland zwischen orientalischen, mediterranen und angloamerikanischen Einflüssen entstanden war. (…) Dieser Turbofolk erinnerte mich an die Hotelhandtücher in Ceaușescus Rumänien, die bei der Berührung mit dem nassen Gesicht zerfielen. Um sie zu charakterisieren, genügte ein Wort — beschissen!“

Doch auch die Menschen der westlichen Welt lassen sich, so der Autor, an der Nase herumführen, denn als er ein Teenager war, seien die jungen Leute auf den großen Plätzen in New York, London und Paris für die neuesten Platten der Beatles oder von Bob Dylan Schlange gestanden. Die Teenager von heute würden nicht mehr auf die Lieder der großen Songwriter warten, sondern auf das neueste iPhone. Auch hier würde wiederum das Vergessen weiterhelfen: „Du schiebst Dylan unter den Teppich des Vergessens und schon lebt es sich leichter in einer Welt, in der die Gegenstände im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen und nicht die von dir verehrten Helden, die von Liebe und Freiheit sangen und gegen das Unrecht kämpften.“

So ist Der Tod ist ein unbestätigtes Gerücht ein Manifest dafür, die Lebensfülle lustvoll anzunehmen, den Stier bei den Hörnern zu packen und sich nicht zu schämen, dabei in den Dreck zu segeln. Wüst, überlebensgroß, die Gitarre im Anschlag und die Zigarre im Mundwinkel: So sieht sich der Regisseur Kusturica, als eine Art Pancho Villa des Balkan. Schon sein Nachname bezeichnet ein scharfes Messer. Doch letztendlich sind es die Engel der Liebe, die diesen Ungestümen durchs Leben tragen. Eines Tages, so schreibt er, wartet er darauf, dass seine Frau Maja und sein Sohn Stribor aus dem Libanon zurückkehren, wo sie seine Schwiegermutter besucht haben: „Ich sagte zu Aligrudić: „Wenn ich an die beiden denke, wird mir irgendwie so warm im Bauch. Was kann das sein, Alija?“ Er verpasste mir eine Kopfnuss und sagte: „Liebe, du Idiot!“

 

 

Emir Kusturica ::: Der Tod ist ein unbestätigtes Gerücht: Mein bisheriges Leben

(Knaus Verlag, 2011; aus dem Serbischen von Mascha Dabic)

 

Emir Kusturica (*1954) wuchs in Sarajevo auf und studierte an der Prager Filmhochschule. Zu seinen bekanntesten und international vielfach ausgezeichneten Filmen gehören Papa ist auf Dienstreise, Zeit der Zigeuner, Arizona Dream, Underground und Das Leben ist ein Wunder. Er trat auch als Schauspieler in Erscheinung (in Die Witwe von Saint-Pierre, Der Dieb von Monte Carlo u. a.) und ist Rhythmus-Gitarrist und Frontman des No Smoking Orchestra. Heute lebt Kusturica in Belgrad, Paris, der Bretagne und in dem von ihm konzipierten „Küstendorf“ im westserbischen Zlatibor-Gebirge.

 

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Published in Allgemein

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