Von der walisischen Historikerin und Reiseschriftstellerin Jan Morris (1926 – 2020) lässt sich so gut wie alles lesen. Nur bräuchte man dazu halt ein paar Jahre. Die Dame ging gerne in die Tiefe und in die Weite, wie in ihrer Pax Britannica Trilogie über die Geschichte des Britischen Empire mit mehr als 1300 Seiten.
Historisch tief gehen auch ihre definitiven Stadtporträts von Hongkong, Oxford, Venedig und Triest. Gerade für letztere Stadt galt Morris als Spezialistin (Trieste or the Meaning of Nowhere, erschienen 2001 bei faber&faber und wie fast alles von Jan Morris skandalöserweise nicht ins Deutsche übersetzt).
In einem Interview gestand sie, dass sie sich nach ihrem Tod als Geist im Schloss Miramare sehen könnte, so vertraut und wichtig sei ihr die Küste von Triest, dieser melancholischen, von der Bora zerzausten Hafenstadt, die sich vor der porösen Karstlandschaft ausbreitet und zwischen zwei kulturellen Welten verortet, zugleich aber von beiden abgewandt ist.
Nicht unähnlich der Autorin selbst, die als James Morris geboren wurde, sich jedoch ab den späten sechziger Jahren zur Frau umwandeln ließ und diese physische und emotionale Metamorphose 1974 in ihrem Buch Conundrum beschrieb.
James Morris war übrigens 1953 derjenige Reporter, der die Welt von der geglückten Besteigung des Mount Everest in Kenntnis setzte. Als Edmund Hillary und Tenzing Norgay als erste am höchsten Punkt der Erde standen, war es Morris, der eiligst und alleine über den Khumbu-Gletscher abstieg und einem Läufer die codierte Erfolgsnachricht („snow conditions bad (= Gipfel erreicht) stop advanced base abandoned (= Hillary) yesterday stop awaiting improvement (= Norgay)“) auf den Weg zum nächsten Drahtnachricht-Sender in Namche Bazaar mitgab und somit dafür sorgte, dass die Ersteigung des Everest zeitgleich mit der Krönung Elizabeths II gefeiert werden konnte. Zum größeren Ruhm des Empire.
Dem britischen Herrschaftsanspruch über weite Teile unserer Erde stand Jan Morris gerade als Waliserin auch kritisch gegenüber, besonders der Legitimität des Falkland Krieges und der mitleidlosen Sozialpolitik Margaret Thatchers. Sie sah sich zeitlebens als Teil des akademischen Betriebes in Oxford, aber auch als Frau des einfachen Volkes. So schrieb sie als Journalistin sowohl für die altehrwürdig-behäbige Times als auch für den linksliberalen Guardian.
Immer wieder kommt in ihren Büchern die Idee einer „vierten Welt“ vor – die der Weltbürger: „Unter solchen Leuten kannst du dich sicher fühlen, denn sie werden dich nicht aufgrund deiner Nationalität, deines Glaubens, deines Geschlechts oder deiner Herkunft verspotten oder gar aussondern. Sie sind nachsichtig, einfühlsam, lachen schnell, sind stets dankbar und nie gemein. Sie sind Exilanten in ihrer eigenen Gesellschaft, weil sie immer in der Minderheit sind – dabei könnten sie eine mächtige globale Nation bilden, wenn sie es nur wüssten.“
Betagt, bewandert, belesen und als höchste Instanz des Travel Writing berühmt, veröffentlichte Morris im 21. Jahrhundert kaum mehr etwas. Umso erfreulicher nun die Entdeckung ihrer gesammelten Reportagen und Aufzeichnungen aus wahrlich aller Welt, unter dem ebenso schlichten wie erschlagenden Titel: The World (Travels 1950 – 2000).
Der Wälzer vereint Stadtporträts, Straßenszenen, kulturelle Reflexionen, politische Beobachtungen aus dem Kalten Krieg und atmosphärisches Lokalkolorit aus Manhattan, Oman, Iran, Berlin, Paris, Delhi, Cuzco, Wien, Toronto und so weiter und noch viel weiter. Buch aus dem Regal nehmen, irgendwo aufschlagen und – in bester Gesellschaft – reisen!
Sozusagen als aperçühaftes Postskript sei der geneigten Leserin und dem geneigten Leser der vergleichsweise schmale Band Contact! ans Herz gelegt, in dem sich Jan Morris wirklich nur kurze, blitzhafte Eindrücke und Begegnungen rund um die Welt in Erinnerung ruft.
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