Der kleine Verlag Dörlemann in Zürich hat einen vergessenen Schatz gehoben. Er hat Patrick Leigh Fermors einzigen Roman oder besser gesagt, seine einzige Novelle, Die Violinen von Saint-Jacques von 1953, auf Deutsch herausgebracht. Die Übersetzung von Manfred Allié ist eine Vitrine sprachlicher Schaustücke und ein üppiger, exotischer Wortgarten. Wen das soziale Panorama des 18. Jahrhunderts in Patrick Süskinds Das Parfum gefesselt hat, wer Listen und Aufzählungen liebt, und wer vor einem kunstvollen Memento Mori nicht zurückschreckt, für den oder die ist Die Violinen von Saint-Jacques ein Buch für das innere Sanktum der Bibliothek.
Seltsam, dass es mit seiner Bildkraft und dem spannenden Aufbau das einzige fiktive Werk seines Autors blieb: Patrick „Paddy“ Leigh Fermor (1915–2011) gilt immerhin als einer der bedeutendsten englischsprachigen Reiseschriftsteller der alten Schule.
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In ihrem Nachruf auf den Schriftsteller beschreibt ihn Jan Morris als „idealen Engländer: auf sanfte Art gutaussehend, stark aber nicht büffelhaft, voller Schabernack, Poesie und klassischer Bildung; mit einem Haus, einer Frau, einer Katze und einer Berufung.“
Fermors erstes Buch The Traveller’s Tree (1950) war, wie Die Violinen, in der Karibik entstanden, doch berühmt wurde er durch seine, für einen idealen Engländer untypische Unangepasstheit und durch einen etwas ausgedehnten Spaziergang. Mit 16 wurde er von seiner Schule, der King’s School in Canterbury, verwiesen, weil er händehaltend mit der Tochter eines Gemüsehändlers gesehen worden war.
Bereits davor galt der Freigeist in der rigiden englischen Klassengesellschaft als schwer erziehbar. Zwei Jahre später ging Paddy Fermor zu Fuß vom Hook of Holland los, einen Band Homer und etwas Reisegeld im Rucksack und wanderte durch das winterliche Deutschland, durch das vom Bürgerkrieg zerfressene Österreich, immer weiter der Donau entlang, die Karpaten überquerend bis nach Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Der erste Band seines Berichtes über diese mehrjährige Unternehmung, A Time of Gifts, erst 1977 erschienen, ist ein Meilenstein der Reiseliteratur.
Diese potente Mischung aus Graham Greene und Indiana Jones wurde 1943 Offizier des OBE und als Kriegsheld berühmt, nachdem er den Nazi-General Kreipe auf Kreta in den Hinterhalt gelockt hatte und sich erstaunlich gut mit ihm, zum heimlichen Vergnügen beider, auf Latein unterhalten konnte. Die Filmmacher Powell & Pressburger brachten dieses Abenteuer unter dem Titel Ill Met By Moonlight 1957 auf die Kinoleinwand. In den 1960er Jahren ließ sich Fermor mit seiner Frau Joan auf der Mani am Peloponnes nieder, wo er allabendlich (nicht selten an der Seite seines Landsmannes Lawrence Durrell) dem Sonnenuntergang seines reichen Lebens einen Toast ausbrachte.
Die Violinen von Saint-Jacques ist eine Erzählung in einer Erzählung: Ein junger Engländer, womöglich Fermor selbst, begegnet auf einer Insel in der Ägäis der betagten Überlebenden eines Vulkanausbruchs in der Karibik. Berthe, so der Name der alten Dame, ist eine kunstsinnige, malende Französin. Fasziniert lauscht der Gast dem Bericht über ihr abenteuerliches Leben und hört von der Katastrophe, die es vor allen anderen Ereignissen prägte.
Während sie erzählt, taucht eine elegante und prunkvolle Welt in all ihren Farben, Gerüchen und Lichtstimmungen wieder auf – die Welt der westindischen Kolonien, wo Berthe im Jahr 1902 als Gouvernante beim Gouverneur der kleinen Antillen-Insel Saint-Jacques ihren Taglohn bestreitet.
Berthe berichtet von den kleinen Streitigkeiten zwischen den oberflächlichen Aristokraten und von großen Affären in deren Zirkeln, von der separaten Welt der afrikanischen Sklaven und eingeborenen Kreolen und von einem Maskenball, den der Graf für seine Töchter gibt.
Dessen Vorbereitungen werden minutiös erwähnt: „Der Rest des Raumes war ein Dschungel von Globen, Astrolabien, Teleskopen, Alben, alten Landkarten, Notenblättern und historischen Instrumenten aller Arten. Das Cembalo, beteuerte Monsieur de Serindan, habe einmal Lully gehört, und um diesen Schatz waren ein Rebec, ein Krummhorn, eine Theorbe und ein Trumscheit aufgestellt. Es gab Gefäße mit in Alkohol eingelegten Schlangen und einen Glaskasten mit riesigen blau-grünen Schmetterlingen aus Cayenne (…); außerdem einen Billardtisch. Viele dieser Besitztümer waren für das Fest beiseite gestellt worden, um Platz für die Besucher zu schaffen. Aber der Schutzgeist des Zimmers, ein mächtiger, prachtvoller Ara aus Nicaragua, der auf den Namen Triboulet hörte, saß auch weiterhin auf seiner gewohnten Stange und brachte das Stimmengewirr von Zeit zu Zeit mit einem Schrei zum Verstummen, dem unweigerlich ein Schnalzen und dann der Ruf Montjoy–Saint-Denis! folgte, oder alternativ die einzigen englischen Worte, die der Graf je gelernt hatte: Have a dwink!“
Interessant dabei ist, dass das Narrativ stets zwischen den Beobachtungen Berthes und einem allwissenden, kühl-distanzierten Erzähler wechselt, der die Hitzigkeit des Festes und die Hitze der heraufdräuenden Naturkatastrophe beschreibt. Denn mitten im rauschenden Rococo-Reigen des Karnevals lecken, unbeachtet von den Feiernden, erste Feuerzungen von dem über der Insel thronenden Vulkan Salpetrière herab.
Während sich verkleidete Aristokratenbuben mit Duell-Androhungen ihr Mütchen kühlen, sammeln sich tief im Erdinneren unter dem Meer magmatische Kräfte, die zu namenlosem Grauen und spurloser Vernichtung führen werden. Nach dem Motto Et In Arcadia Ego lächelt bereits ein gewaltiger Tod über dem bunten Ameisentreiben der Mardi-Gras-Partie. Das Raffinement von Fermors wechselnden Erzählebenen möchte den Leser Warnrufe ausstoßen lassen, ob der Ignoranz der Einwohner von Saint-Jacques, als es still und heimlich mitten in der karibischen Sommernacht zu schneien beginnt: nämlich weiße Ascheflocken aus dem Vulkan, der eben zu todbringendem Leben erwacht ist.
Inspiriert wurde Patrick Leigh Fermor vom historischen Ausbruch des Vulkans Mount Pelée auf der Insel Martinique am 8. Mai 1902, der die gesammte Kleinstadt St. Pierre innerhalb von Minuten auslöschte. Eine schwarze, pyroklastische Wolke, mehr als 1000 °C heiß, jagte mit fast 700 km/h über den Hafen hinweg, vernichtete alle Schiffe und tilgte etwa 35000 Menschenleben im Umkreis von 80 Quadratkilometern. Dann begann der explodierende Berg sein höllisches Feuerwerk.
Der Ausbruch selbst ist so erschreckend eindringlich erzählt, dass man ihm eine überirdische, sublime Schönheit zugestehen muss. Die am Nachthimmel über Saint-Jacques von innen erleuchteten Gaswolken sind so faszinierend beschrieben, dass man kaum umhin kommt, diese Weltuntergangsszenen zweimal zu lesen.
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Berthe gelingt, als einer der wenigen, die Flucht in einem Schiff aufs offene Meer vor der sich langsam in zwei Teile spaltenden Insel. Aus deren Mitte erhellt ein senkrechter Lava-Strahl die Umgebung: „Sekunde um Sekunde stieg der Strahl höher, bis er seinen gigantischen Höhepunkt meilenweit in der Atmosphäre erreichte, und das Grollen, das diesen Aufstieg begleitete, war durchbrochen von ohrenbetäubendem heiserem Donner. Ein sengender Lufthauch, als hätte sich eine Backofentür geöffnet, fuhr über die auf dem Schoner Versammelten hinweg, und die See, Spiegelbild der Flammen am Himmel, leuchtete auf wie eine spiegelglatte Wüste. Die Nachbarinseln, Marie-Galante, die Inseln der Heiligen, Guadeloupe und Dominica, schienen, so plötzlich alle miteinander aus dem Dunkel aufgetaucht, zum Greifen nah. Brennende Bruchstücke aus dem Mittelpunkt der Erde flogen durch die Luft, Geschosse wie gezackte Feuerklumpen, lösten sich im Fluge auf, flüssig wie Siegelwachs, fielen in einem Regen von feurigen Tropfen ins Wasser, aus dessen Spiegelfläche noch im selben Augenblick ein Wald von zischenden Fontänen und Gischtwolken aufwuchs.“
Das kurze, aber eindringliche Werk, eine funkelnde Gemme von einem Buch, entlässt den erschütterten Leser mit dem Bild der Violinen des Ball-Orchesters, deren Klänge jedes Jahr zur Zeit des Karnevals dort aus den grünen Tiefen der Karibik steigen, wo einst das dekadente Eiland Saint-Jacques lag.
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