VANESSA UND DIE MESSER
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In Die Frau auf der Brücke erzählt Patrice Leconte die Geschichte eines lebensmüden Mädchens, das ihrem Schicksal in Gestalt eines Messerwerfers begegnet. Ein abseitiger Film über Glück und Unglück, mit hervorragenden Hauptdarstellern in kostbarem Schwarzweiß.
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Adèle (Vanessa Paradis) ist einundzwanzig und des Lebens einigermaßen überdrüssig.
Unglückliche Liebschaften mit hübschen, aber bescheuerten Männern, Orientierungslosigkeit und der ganze restliche Kram. Ihre einzige Begabung, die dafür aber genial ausgeprägt zu sein scheint, ist, das Unglück anzuziehen wie ein Fliegenfänger Stubenfliegen.
Clip: Eröffnungsszene des Films
Da Adèle auch über ein geschüttelt Maß Konsequenz verfügt, sucht sie sich eine einsame Brücke, um ihre unglückliche Seele mit dem nächtlichen Wasser der Seine zu vereinen. Dort stellt sie sich einer jener Situationen, in denen man entweder dem Tod oder einem Engel begegnet, je nachdem ob man Glück hat oder nicht. Was in Adèles Fall eher Variante eins bedeuten würde. Dass ihr jedoch nicht einmal ihr Selbstmord glücken will, ist nur die fatale Ironie über ihrer Pechsträhne: Also doch ein Engel.
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Dieser trägt Lidschatten, ist Messerwerfer im Varieté und auf der geduldigen Suche nach einer todesmutigen jungen Frau als würdigem Beinahe-Ziel für seine Klingen. Gabor (Daniel Auteuil) ist ein düsterer Virtuose der Fertigkeit, sein Ziel nur um Haaresbreite zu verfehlen, ein skurriler Zen-Hasardeur, dessen Präzision und Konzentration davon abhängt, ob er und seine Partnerin die innere Ruhe wahren können.
Adèle, der das Sterben sowieso nicht ganz unrecht wäre, begibt sich also in Gabors Dienste. Beide stellen auf ihrer Reise durch Zirkusmanegen, Privatsoiréen und Casinos fest, dass sich die perfekte geistige Balance zwischen ihnen auf mysteriösen und magischen Bahnen zu bewegen beginnt – solange nur eine dem andern vertraut…
Mit Die Frau auf der Brücke (1999; orig. La fille sur le pont) gelingt es Patrice Leconte (Die Verlobung des Monsieur Hire, Der Mann der Friseuse, Ridicule, Die Witwe von St. Pierre, u.a.) in seiner leichtfüßigen, an Truffauts Doinel-Zyklus erinnernden Erzählweise in nur neunzig Minuten – und ohne eine einzige „Liebesszene“ – eine außergewöhnliche, tiefgehende Liebesgeschichte zu erzählen, die von der makellosen Performance der beiden Hauptdarsteller getragen wird.
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Vanessa Paradis, die in Filmen wie Élisa und Une chance sur deux gezeigt hat, dass sie weit mehr ist als eine bad-ass-Daisy-Duck des französischen Popkultur-Outputs, bietet mit entwaffnender Elfenhaftigkeit und verführerischer Verspieltheit eine ideale Balance zu Auteuils manischer, magyarischer Gravitas. Die Dialoge von Autor Serge Frydman kommen aus der Hüfte geschossen und, man verzeihe das Wortspiel, mit messerscharfer Schlagfertigkeit.
Die illustren Schauplätze an der Côte d’Azur und in Istanbul evozieren unaufdringlich die an Carné, Ophüls und Fellini erinnernde Gaukler- und Vagantenwelt mit ihren kleinwüchsigen Damen, Schlangenmenschen und Fakiren. Jean-Marie Dreujous Kamera geleitet das schräge Artistenpaar durch brillierende Fitzgeraldsche Nächte und flirrende Spätsommertage, stets mehr ein der Eleganz von Paradis und Auteuil ebenbürtiger Dritter im Bunde, als bloß stiller Beobachter dieser kosmisch-komischen Liebschaft.
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Kompositionen von Benny Goodman, Wehmütiges von Marianne Faithfull und eine Darbietung der österreichischen Bundeshymne in levantinischer Orchesterversion (!) tragen zur neoklassischen, smarten Ästhetik Lecontes bei. Die Frau auf der Brücke ist ein kleines, aber raffiniertes Werk über die Geometrie des Zufalls, über das Vertrauen in den eigenen guten Stern ( und den des anderen) und ein rarer Film als Glückstreffer mit verbundenen Augen.
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