GRATWANDERER ZWISCHEN DEN WELTEN
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Unter Bergsteigern gilt Kurt Diemberger (*1932) als lebende Legende. Er veröffentlichte aufsehenerregende, preisgekrönte Dokumentarfilme und bislang sieben Bücher mit eindrucksvollen, oft philosophischen Texten. Viel beachtet sind auch seine Fotografien, die er von seinen Abenteuern in den unzugänglichsten Gegenden der Welt zurückbrachte. Er ist auch der einzige Mensch, der auf die Erstbesteigung von gleich zwei 8000ern zurückblicken kann (Broad Peak im Jahre 1957 und Dhaulagiri 1960).
In den 1950-er Jahren meisterten Diemberger und sein langjähriger Seilpartner Wolfgang Stefan die drei großen Nordwände der Alpen, die des Matterhorns, des Eiger und der Grandes Jorasses über den Walker-Pfeiler. Gemeinsam mit Franz Lindner überquerte er den gesamten Peuterey-Grat am Mont Blanc und filmte als erster dieses schwierige Unterfangen. Nachdem ihm die Durchsteigung der Schaumrolle, einer überhängenden Gipfelwechte auf der Königspitze (Gran Zebrù) in Südtirol, gelungen war, wurde der Erstbesteiger des Nanga Parbat und einer der besten Bergsteiger seiner Zeit auf ihn aufmerksam: Hermann Buhl.
Diemberger, erst 25 Jahre alt, wurde 1957 zu Buhls letztem Partner am Berg, zunächst bei der Erstbesteigung des Broad Peak und kurz darauf bei einem Versuch an der Chogolisa, bei dem Buhl den Tod fand. Eine weitere Tragödie verdüsterte Kurt Diembergers Leben, als seine britische Gefährtin Julie Tullis im „schwarzen Sommer“ 1986 am K2 an einem Gehirnödem starb. Gemeinsam hatten die beiden jahrelang das „höchste Kamerateam der Welt“ gebildet.
Der bärbeißige, aber herzenswarme Kurt Diemberger hat die wildesten Alpenwände durchklettert und die größten Schneegiganten des Himalaya bestiegen. Doch sein Fokus lag nicht nur auf der Vertikalen. Diemberger unternahm auch Expeditionen nach Grönland und Südamerika und erkundete wiederholt das unbewohnte und geheimnisvolle Shaksgam Tal, nördlich des zentralen Karakorums, in der chinesischen Provinz Xinjang.
Kurt Diemberger konnte sich stets auf seinen ausgeprägten Instinkt verlassen, sei es bei der Wahl der richtigen Partner am Berg oder beim Überwinden von alpinen Gefahren. Diesem sechsten Sinn verdankt er auch das Entkommen aus gelegentlich hoffnungslosen Situationen. Diemberger ist ein geradliniger, freiheitsliebender Individualist und wollte sich nie für Sponsoren oder Organisationen verbiegen. Er versteht sich als leidenschaftlicher Gegner einer sensationalistischen, kommerziellen und auf Konkurrenz aufgebauten Bergsteigerei. Eigenverantwortung und Forschergeist standen für ihn immer im Mittelpunkt seiner Projekte.
In diesem Interview sprach Kurt Diemberger mit mir über die Faszination der alpinen Geometrie, Sinn und Unsinn des Speed-Kletterns, die letzten Fußspuren Hermann Buhls und die stillen Stimmungen des Shaksgam Valley.
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Herr Diemberger, Ihr Ausgangspunkt als Alpinist war die Suche nach Kristallen und wenn man so will, sind ja auch die Berge des Himalaya große Kristalle. In Ihrem ersten, 1970 erschienenen Buch „Gipfel und Gefährten“ widmeten Sie ein ganzes Kapitel der „alpinen Geometrie“. Wie wichtig war Ihnen die Schönheit eines Berges um seine Besteigung in Augenschein zu nehmen?
Es mag schon sein, dass das Kristallsuchen bei mir eine wichtige Rolle gespielt hat. Die alpine Geometrie, die Sie erwähnen, macht das vielleicht klarer. Ich wurde schon immer von Bergen beeindruckt, die in ihren Linien und in ihrer Ausstrahlung etwas Besonderes haben. Und da ist etwa der K2 der größte Kristall, den es auf der Welt gibt. Ein anderes Beispiel ist die Direttissima durch die Königswand. Es gibt aber auch Beispiele dafür aus meinem fotografischen Schaffen, die nicht unbedingt etwas mit der Kletterei zu tun haben. Hier sei der Blick aus der Nordwand des Mont Blanc de Cheilon erwähnt, der mich fantastische Schattenzeichnungen auf dem Gletscherboden tief unter mir erleben hat lassen, die ohne weiters aus de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“ stammen könnten. So spielt eben auch die Phantasie herein in das was einen da lockt, nicht nur die Schwierigkeit.
Traf diese Kombination auch auf Hermann Buhl zu, den Sie öfter als Ihren Bergvater bezeichnet haben?
Das weiß ich nicht so genau, bei ihm war es jedenfalls auch dieser Antrieb etwas Neues in die Welt zu stellen, auch in die Welt der Berge. Er war der Schöpfer des Westalpen-Stils, den wir dann gemeinsam bei der Österreichischen Karakorum-Expedition 1957 in die Wirklichkeit umgesetzt haben. Bei der Besteigung des Broad Peak (8051 m) zusammen mit Marcus Schmuck und Fritz Wintersteller verzichteten wir auf Hochträger und Sauerstoffgeräte. An der Chogolisa (7654 m) wendeten Buhl und ich bereits einen leichtgewichtigeren Westalpen-Stil mit einem einzigen wandernden Hochlager an, den man heutzutage als reinen Alpin-Stil bezeichnen würde.
Diesen Stil griffen Reinhold Messner und Peter Habeler dann 1975 erstmals an einem 8000er wieder auf, nämlich am Gasherbrum 1 (8080m; auch Hidden Peak genannt; Anm.). Messner berief sich dabei in einem seiner Bücher auf uns, was sonst leider eher weniger bekannt ist.
Die Chogolisa im Karakorum wurde wegen der Riffeleiswände ihrer Nordostseite mit einem Brautkleid verglichen und gilt als schönster Dachfirst der Welt. Weshalb ist sie nach dem Tod Hermann Buhls 1957 nie mehr als Gipfelziel für Sie in Frage gekommen?
Als Wegziel ist dieser Berg für mich nie mehr wieder aufgetaucht, denn die Chogolisa ohne Hermann (Buhl stürzte beim Rückzug im Schneesturm mitsamt einem großen Wechtenbalkon in die vergletscherte, kesselförmige Nordflanke ab; Anm.) – was hätte das für einen Sinn haben sollen, wenn ich ihn doch dort verloren habe? Ich habe daran noch nie gedacht, und ich denke, auch sonst niemand. Doch wenn wir über die unterschiedlichen Antriebskräfte unserer gemeinsamen Seilschaft damals reden wollen: Buhl war bei dieser Bergfahrt an der Chogolisa von der Verwirklichung einer Idee besessen. Nämlich: in nur drei Tagen einen so riesigen Berg zu besteigen, und nicht in drei Wochen, wie etwa am Broad Peak. Er wollte zeigen dass das möglich ist. Es war jener Verwirklichungs-Antrieb, den ich den siebten Sinn nenne, der aber natürlich auch die leisen Gegenstimmen im letzten Winkel des Bewusstseins nicht ganz verstummen lassen kann, die einem sagen: „Dreh um, es ist zu gewagt!”.
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Sind das Zweifel, die einem bei erkennbaren Gefahren begegnen oder die Warnungen des sechsten Sinnes?
Die objektive Gefahr, die an der Chogolisa erkennbar war, waren die Schneeplatten, die der Wind an die Gratflanken gepresst hatte. Dadurch waren wir stellenweise gezwungen, bis an die Abbruchkante der Nordwand heranzugehen und weiten Abstand voneinander zu halten. Das war auf dem Vorgipfel (genannt Ice Dome, 7150m), den wir überqueren mussten, noch einfacher weil dort das Eis viel härter war.
Dort wo dann später im Abstieg (bei dem Diemberger vorspurte; Anm.) die Wechte gebrochen ist, ist sie ja viel weiter hereingebrochen. Ich ging ja selbst schon draußen auf dem Rand der Wechte, als ich das Beben der Schneefläche um mich herum spürte. Im Wegspringen nach rechts sah ich noch das Kollabieren der Wechte zu meiner linken. Auf dem Bild, das ich von der Unglücksstelle aufgenommen habe, sieht es ja so aus als sei die Spur da ganz nah am Wechtenrand entlang gegangen, aber tatsächlich ist ein großer Teil der Fläche dazwischen weg gebrochen. Ausserdem war Hermann schon davor aus meiner Spur herausgegangen.
Kann es sein, dass er im Schneetreiben die dunkle Linie des Wechtenrandes für Ihre Spur hielt?
Nein, nein, das kann nicht sein – dazu war meine Spur zu deutlich! Auch müsste er mich bei ungefähr zehn Meter Abstand doch wahrgenommen haben. Warum er aus meiner Spur herausgetreten ist, kann mehrere Gründe haben: Zum einen war es vielleicht ein Windstoß mit Schneeflocken, der ihm gerade die Schneebrille verklebt hat. Es könnte natürlich auch sein, dass er sich angesichts der Krümmung meiner Spur gedacht hat, „Herrgott, warum geht denn der Kurt in so einem weiten Schwung nach rechts?! Na gut, ich geh’ auch ungefähr dort, aber nicht so weit unten,“ und dabei zu weit hinausgegangen ist. Da ist viel drüber gerätselt worden, aber letztendlich wissen wir es nicht… Tatsache war, dass wir nicht angeseilt waren, was in so einer Situation grundsätzlich ein Fehler ist. Hätten wir allerdings das Seil verwendet, dann wäre ich jetzt wohl nicht mehr da, denn Hermann hätte mich unvermutet nach hinten in den Abgrund mitgerissen. Folglich verdanke ich mein Leben einem Fehler.
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Könnte man Sie als Pionier dessen sehen, was weithin als Extremsport bezeichnet wird?
Ich glaube das nicht! Ich bin kein Vorläufer des Extremsports und habe mit Geschwindigkeits- und sonstigen Rekorden nichts zu tun, ganz im Gegenteil. Ich bin als Verfechter der Langsamkeit bekannt, sofern man sich nicht beeilen muss, ein Couloir zu durchqueren oder einem herannahenden Gewitter auszuweichen. Wer langsam geht, geht gut. Wer gut geht, geht weit. Dafür bin ich ja ein lebender Zeuge. Nach meinem Verständnis des Extremsportes, geht es da nicht mehr darum, eine Route zu finden, die die Lösung eines bergsteigerischen Problems darstellt, sondern darum, den bereits vorhandenen Routen eine weitere, mit einem noch höheren Schwierigkeitsfaktor, drauf zu setzen. Oft habe ich das Gefühl, es geht nur darum, dass dabei jemand seinen Namen verewigen will. Ich bin kein Freund des Extremsports, besonders dann nicht, wenn es um Speed-Rekorde geht.
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„Wer langsam geht, geht gut. Wer gut geht, geht weit.“
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Gibt es dabei Ausnahmen für Sie?
Natürlich gibt es fantastische Kletterer, die auch bei großen Geschwindigkeiten noch sicher klettern, wie etwa Ueli Steck (1976 – 2017), der in zwei Stunden und 47 Minuten durch die Eiger-Nordwand geklettert ist. Das ist natürlich bewundernswert aber ich frage mich dann, erstens, was der Sinn dabei ist und, zweitens: Was sieht denn der überhaupt? Er sieht nur noch das, was er braucht um schnell zu sein. Es ist also nur mehr eine rein sportliche Leistung.
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Ihre Motivation als Alpinist ist jedoch eine umfassendere, wie es scheint.
Für mich, der ich ja mit dem Kristallsuchen begonnen habe, ist das Bergsteigen im Wesentlichen doch ein Entdecken. Wenn ich da an die Schaumrolle, die gewaltige Gipfelwächte auf der Königspitze denke, dann gibt es mehrere Gründe warum ich 1956 dort hinauf wollte: Der Hauptgrund war, dass ich wissen wollte, wie es da drinnen ausschaut, in diesem Gebilde, das ich mir von unten als blauen Eisdom vorgestellt hatte.
Erst der zweite Grund war der sportliche: Schaffe ich das, über dieses riesige Gewölbe irgendwie drüber- oder durchzukommen? Die Schaumrolle hat mir aber nicht nur diese beiden Aspekte, den des Entdeckens und den sportlichen, als Mitbringsel geschenkt, sondern auch meine allererste Begegnung mit der Situation des Konkurrenzbergsteigens (Diemberger traf in der Schaumrolle auf die Seilschaft Knapp/Unterweger, mit der er sich später bezüglich der Darstellung der Erstdurchsteigung überwarf. Der Stein des Anstoßes, die Schaumrolle, die zum Zeitpunkt des Geschehens als größte Gipfelwechte der Ostalpen galt, brach im Sommer 2001 ab; Anm.).
Sie sind als Gegner des kommerzialisierten, medialisierten Alpinismus bekannt. Möchten Sie sich dazu äußern?
Ich bin gegen das übertriebene Sponsoring, das es heutzutage gibt, und will das unkontrollierte Eindringen der Werbung in den Alpinismus ein bisserl bremsen. Die Bergsteiger der heutigen Zeit sind von oben bis unten mit irgendwelchen Logos zugepickt. Wenn es sich um eine Expedition handelt – okay, dann soll die ruhig unter der Flagge eines Sponsors segeln. Das sind halt dann gesponserte Expeditionen, die es ja schon immer gegeben hat. Zum Beispiel hat uns in den 50er Jahren der Sport Scheck in München für den Broad Peak ausgerüstet. Als ich mit Julie Tullis 1985 auf den Everest ging, war es die Glas-Firma Pilkington, die so gut wie alles zahlte und sich dafür das Recht nahm, damit Werbung zu machen.
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Neben den Bergen des Karakorum fasziniert Sie die entlegene Hochwüste des Shaksgam-Tales. Wie sieht es dort aus?
Das Shaksgam-Tal ist die große Unbekannte auf der anderen Seite des K2, auf der chinesischen Seite. Es ist ein über 200km langes Flusstal. Meist ist es ausgetrocknet – dann rinnt das Wasser nur spärlich zwischen den Steinen. Wenn aber im Juli und August die Gletscher schmelzen, wird das Tal überschwemmt. Dort gibt es noch so viele unbekannte Berge, namenlose Gipfel. Im Shaksgam ist die goldene Zeit noch nicht vorbei, es gibt noch Rätsel zu lösen und genügend unbegangene Routen, auch zu den 8000ern. Der Hidden Peak etwa ist von dieser Seite aus noch gar nicht bestiegen worden. Eine japanische Expedition hat versucht, dort durchzukommen, musste aber vor einem sägezahnartigen Grat mit Eistürmen auf 6400m umkehren. Man sollte dort bald hinfahren, denn diese Erscheinungen könnten wegen der globalen Erwärmung möglicherweise verschwunden sein und der ganze Grat dürfte sich verändert haben.
Was hat Sie an diesem Tal so fasziniert?
Dass es eine der unzugänglichsten Gegenden der Welt ist. In dieser Bergwüste lebt niemand und es gibt dort ganz wunderbare Stimmungen. Um ins Shaksgam zu gelangen, muss man den Aghil-Pass überqueren, der fast so hoch ist wie der Mont Blanc. Vor diesem Pass gibt es noch ein letztes Dorf, dessen Bewohner Kirgisen sind. Ich will dort auf jeden Fall noch mal hin. Da ich das Tal so gut wie meine Westentasche kenne, bedachten mich die Amerikaner mit dem Titel „Shaksgam-Hausmeister“. Dort steht auch noch ein Materialfass von meiner siebten Shaksgam-Expedition 1999 unter einer Moräne versteckt mit einem Zettel unter dem Deckel – auf dem steht „Wird noch gebraucht!“
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