ICH WILL NUR DRAUSSEN SPIELEN
Als Jimmy Chin (*1973) nach dem College beschloss, in einem Auto zu wohnen und Kletterer in Kalifornien zu fotografieren, brach für seine Eltern eine Welt zusammen. „Für das, was du da mit deinem Leben machst, gibt es nicht einmal einen chinesischen Ausdruck“, warf ihm seine Mutter unter Tränen vor.
Nun, 20 Jahre später, ist Chin einer der begehrtesten Outdoor-Fotografen der Welt und nahm an Expeditionen nach Patagonien, Pakistan, Grönland, Borneo, Tschad, Mali, Nepal und in die Antarktis teil.
Im Februar 2019 wurde er gemeinsam mit seiner Frau, der Regisseurin Chai Vasarhelyi, für die Dokumentation Free Solo mit dem Oscar sowie mit einem BAFTA-Award ausgezeichnet.
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xDer Tag ist bereit für Jimmy Chin. Sobald es hell wird am Horizont, steht er am Fenster und lässt den verschlafenen Blick schweifen: weite Winterlandschaft, Wilder Westen, Wyoming.
Die perfekte Wahlheimat, die sich der Fotograf, Filmemacher, Extremskifahrer und Bergsteiger nach einer Jugend im faden Flachland von Minnesota ausgesucht hat. Seine Eltern, chinesische Einwanderer mit tigergleichem Biss und extrem hoher Arbeitsmoral, sahen den Sohn bereits als Anwalt oder Arzt. Doch dann entdeckte Chin das Skifahren und das Fotografieren.
Nach dem Abschluss am Carleton-College of Liberal Arts lebte er sieben Jahre lang in und aus dem Kofferraum seines himmelblauen Subaru und war als einer der „Dirtbags“ (Kletter-Penner) im kalifornischen Yosemite National Park einfach nur glücklich: „Ich schlief versteckt unter Seilbündeln und Jacken, damit mich die Park-Ranger in Ruhe ließen.“ Das einfach nur Glücklichsein hat sich Jimmy Chin beibehalten – auch wenn er mittlerweile in diesem stilvollen, selbstentworfenen Blockhaus hier draußen am Rande der Teton Range lebt.
20 Minuten Meditation, Yogaübungen und ein rosa Riesen-Smoothie sind die Bausteine für einen gelungenen Morgen. Dann spaziert Chin durch einen runden Gang wie durch eine Hobbit-Höhle in sein Büro.
Eine Kletterwand rahmt den von einem Hochbett überdachten Schreibtisch ein. Großformatige Fotos von stürmischen Wolkenstimmungen und Eispilz-gekrönten Gipfeln erzählen von Expeditionen an die Enden der Welt. Ein Buddha lächelt allwissend aus der Ecke und ein tibetisches Mandala zieht magnetisch den Blick auf sich.
Kleine Erker und in die Wand eingelassene Vitrinen zeigen Memorabilia aus dem Abenteuerleben des Hausherrn: eine Trinkflasche mit Wasser aus der Quelle des Ganges; ein ockerfarbenes Steinchen vom Dach der Welt; ein edelhölzernes Backgammon-Spiel aus dem Oman; eine lange Reihe unverwechselbar gelber Heftrücken des National Geographic Magazins, das schon viele seine Bilder veröffentlichte.
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„Meru war die größte alpinistische Herausforderung meines Lebens. Und das gleich zweimal.“
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„Der erste, der mir eine Chance gab und in Folge mein Mentor wurde, war Galen Rowell, einer der ganz großen Natur-Fotografen seiner Generation“, erzählt Chin. Eine Woche lang belagerte er dessen Galerie in Berkeley, bevor er zum viel beschäftigten Meister durchgelassen wurde. „Danach wusste Galen, dass ich das Wichtigste für den Job mitbrachte: Durchhaltevermögen.“
Rowell nahm den jungen Jimmy unter die Fittiche und auf eine ganz besondere Expedition mit: 2002 durchquerten sie zu Fuß, gemeinsam mit Patagonia-Urgestein Rick Ridgeway und Vertikal-Veteran Conrad Anker, das Changthang-Plateau auf der Suche nach den Kalbgründen des vom Aussterben bedrohten Chiru, einer Art tibetischer Antilope. 400 Kilometer legte das Quartett mit selbstgeschmiedeten Proviantschlitten zurück und bestieg, wie nebenbei, einen 6000er in der Kunlun-Kette, den sie Chiru Muztagh tauften.
Seither begleitet Chin die besten Abenteuer-Athleten der Welt mit der Kamera. Über ein 2008 gescheitertes und im zweiten Versuch 2011 gelungenes Projekt im indischen Garhwal-Himalaya (gemeinsam mit Anker und dem kletternden Künstler Renan Ozturk) drehte er die beeindruckende Filmreportage The Shark’s Fin und den preisgekrönten Dokumentarfilm Meru, der beim Sundance Festival 2015 mit dem Audience Award ausgezeichnet wurde.
Auch alpinistisch gesehen war die Besteigung des Meru Central über die extrem zahnige und überhängende Shark’s Fin-Route, die zuvor mehr als 30 Top-Bergsteiger aus aller Welt abgewiesen hatte, ein Meisterstück. „Meru war sicherlich die größte alpinistische Herausforderung meines Lebens“, meint Chin weniger nostalgisch als nüchtern, „und das nicht nur einmal, sondern gleich zweimal.“
Die grimmige Nordflanke des Mount Everest erkundete er bereits 2003 mit dem Snowboarder Stephen Koch. Doch nachdem die beiden im 50 Grad steilen Japaner-Couloir aufgrund der gefährlichen Schneeverhältnisse aufgeben mussten, konnten sie bei der Gletscherquerung zum zweiten Versuch gerade noch vor einer gewaltigen Lawine Reißaus nehmen. Ein Sérac am Nachbarberg Changtse hatte sich mit einem Knall gelöst und tonnenweise Schnee und Eis zu Tal geschickt – ein D-Zug des Todes. Als das Donnern langsam verhallte und der Schneestaub sich legte, war den beiden Amerikanern nicht mehr nach weiteren Versuchen zumute. Sterben gilt unter Bergsteigern als schlechter Stil.
Einer ebenso riesigen Lawine wäre Chin fast zum Opfer gefallen, als er im April 2011 in den Grand Tetons unterwegs war. 400 Meter riss ihn die Lawine von der Kategorie 4 mit, warf ihn vor sich her, erstickte und erdrückte ihn beinahe mit Schneeplatten, so groß wie Kühlschränke. Er überlebte mit ein paar Kratzern und einem leichten Schock. Zehn Tage später stand er wieder auf den Brettern, die seine Welt bedeuten. Doch Angst ums eigene Leben ist für Höhenjäger wie Jimmy Chin bloß ein subtiles Warnsystem: „Das einzige, was mir wirklich Angst einjagt, ist der Gedanke an ein unerfülltes Leben.“
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Auf einem Klettertrip in der Wüste von Tschad, fünf Jeep-Tagesreisen vom nächsten kleineren Ort entfernt, wurden Chin und sein Team von ein paar Banditen mit Unterarm-langen Messern überfallen und beinahe ausgeraubt. Mit dabei war der Alpinist und Journalist Mark Synnott: „Ich schaute zu Jimmy hinüber und sah, wie er einen Grapefruit-großen Stein vom Boden auflas und in Cro-Magnon-Modus überging. So kannte ich den chilligen, ausgeglichenen Burschen gar nicht. Die vermummten Räuber ergriffen vorsichtshalber die Flucht, noch bevor ich sie ergreifen konnte.“
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2006 dokumentierte Jimmy Chin die Ski-Befahrung der Everest-Normalroute. Genauso wie die beiden Extremskifahrer Kit und Rob DesLauriers war er auf Skiern unterwegs. Die Abfahrt führte über den ausgesetzten Hillary Step, den Südsattel und das beinhart gefrorene Lhotse Face – alles andere als eine Genuss-Skitour. Für derartige Projekte muss Chin den Ausnahme-Athleten, die vor seiner Linse performen, sportlich und klettertechnisch fast ebenbürtig sein. Aber auch charakterlich: „Die wahrhaft Großen aller Zünfte sind bescheiden und umsichtig. Großmäuler sind in der Bergsport-Elite sehr selten.“
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„Es gibt im Leben zwei Gefahren: Zu viel zu riskieren und zu wenig zu riskieren.“
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Seine Frau, die chinesisch-ungarisch-brasilianische Regisseurin Elizabeth Chai Vasarhelyi lebt mit den beiden gemeinsamen Kindern Marina (6) und James (4) in ihrer Homebase Manhattan. Sie ist das genaue Gegenteil von Jimmy Chin: städtisch, fashionable, intellektuell – und am Bergsteigen null interessiert. Dennoch half sie ihm bei der Fertigstellung seines Meru-Films. Der Rest ist Familiengeschichte: Am Schneidetisch verliebten sich die beiden und heirateten 2013.
Ob er oft in New York ist? „Chai und ich teilen uns die Zeit so gut es geht zwischen Wyoming und der Upper East Side. Ich bin kein Stadtmensch und wenn ich nicht in die Natur hinaus kann, fange ich an, die Wände hochzugehen. Die Skyline Manhattans finde ich nicht wahnsinnig inspirierend und der Central Park als Refugium reicht mir auf die Dauer einfach nicht“, lacht Chin.
Der bislang letzte gemeinsame Streich des Filmemacher-Paares heißt Free Solo. Free Solo ist die purste und gefährlichste Kletter-Disziplin: Finger, Füße, Fels. Sonst nichts. Der Film begleitet den seilfreien Grenzgang von Alex Honnold durch die Route Freerider (1998 von Thomas und Alex Huber etabliert; Bewertung: 5.13a / UIAA IX+) in der knapp 1000 m hohen Granitwand des El Capitan in Yosemite. Vergangenen Februar wurde der Film mit dem Academy Award für die beste Dokumentation ausgezeichnet.
Chin: „Über dreieinhalb Jahre lang hielt uns Free Solo in Atem. Die Dreharbeiten mussten sogar vor engen Freunden und vor den Kollegen aus der Kletter-Szene in Yosemite geheim gehalten werden.“ Bis zum 3. Juni 2017, jenem Tag, an dem sich Honnold schließlich zuversichtlich genug fühlte, die berühmteste Steilwand der Welt als erster Mensch allein und ohne Seil zu bewältigen. Davor hatte er hunderte Stunden gesichert in der Route verbracht und sich etliche Male von oben abgeseilt, um einzelne Passagen einzustudieren.
Vasarhelyi filmte die Handschweiß treibende Aktion mit einer in den Büschen verborgenen Crew auf der Aussichtswiese The Meadows. Chin hing als erster Kameramann selbst in Schwindel erregenden Höhen über dem Tal und war somit ganz in seinem luftigen Element. Chin: „Es war für uns als Team wichtig, Alex’ Entscheidungsprozesse so wenig wie möglich zu beeinflussen. Wir mussten jedoch 150 % bereit sein, sobald er es war. Während des Aufstiegs war natürlich ständig die Gefahr präsent, dass unser Freund Alex plötzlich aus dem Frame heraus und in den Tod stürzen könnte.“
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Doch Honnold erreichte nach nur knapp vier Stunden breit grinsend das Top-Out der Route und ließ sich, charakteristisch für den emotional äußerst niedertourigen Kletterer, zu einem „So delighted!“ hinreißen. Seither gilt der schlacksige Bursche mit dem Bambi-Blick als Legende und auch Jimmy Chin stieg in seinem Beruf wiederum eine Ebene höher. Doch die ruhige, dankbare Art und Weise, wie er die Dinge Tag für Tag angeht, die wird er nicht ändern. Denn ihr verdankt er nicht nur seine ungewöhnliche Karriere, sondern höchstwahrscheinlich auch sein Leben.
Eine Geste der Dankbarkeit ist auch eines der nächsten gemeinsamen Doku-Projekte von Chin und Vasarhelyi: Wild Life, eine Hommage an Doug Tompkins (1943 – 2015). Der Umweltaktivist und Unternehmensgründer (The North Face, Esprit) erwarb, gemeinsam mit seiner Frau Kristine (Geschäftsführerin der Bekleidungsfirma Patagonia) in Chile und Argentinien riesige Gebiete, um sie als Nationalparks unter Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung zu stellen.
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Als Nebeneffekt dieser Dokumentation erhofft sich Chin, reiche Philanthropen zu inspirieren, es dem Ehepaar Tompkins gleichzutun und sich für die Erhaltung unberührter Landschaften einzusetzen. „Das Filmprojekt bedeutet Chai und mir enorm viel“, sinniert er, „und zwar sicher nicht nur weil die Dreharbeiten weniger nervenaufreibend als Free Solo sein werden, und wir mit unseren Kindern einige der herrlichsten Landschaften Südamerikas besuchen dürfen. Kris, Doug, Yvon Chouinard, Rick Ridgeway, das sind alles Mentoren, meine Familie, mein Tribe. Die würde ich gern mit dem Ergebnis glücklich machen.“
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„Das Einzige, was mir wirklich Angst einjagt, ist der Gedanke an ein unerfülltes Leben.“
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In seiner gemütlichen Mini-Ranch in Wilson, Wyoming, stülpt sich Chin eine The-North-Face-Haube über und springt wie eine Antilope über die Kellertreppen in seinen Gear Room, um die Ausrüstung für einen Skitag zusammenzusuchen.
„Als Kind habe ich oft eines der Lieder, die mir meine Eltern auf Chinesisch beibrachten, gesungen, so eine Art Hymne auf die Natur. Der Refrain bedeutet soviel wie: „Ich will nur draußen spielen!“ Und wenn ich meine Zeugnisse – selbstverständlich mit lauter Einsen – heimbrachte und genügend Kung Fu und Violine geübt hatte, erlaubten sie mir das auch.“
Dann schnappt sich der jugendliche 46-Jährige eines seiner 14 Paar Skier und schnürt einen speziell für ihn angefertigten Foto-Rucksack. In der dunkelblauen Stunde des Nachmittags wird er zurück sein, mit seiner Frau und den Kleinen skypen, Fotos für eine Kampagne nachbearbeiten und ein mehrtägiges Shooting in Alaska vorbereiten.
Zum Abendessen trifft er sich mit ein paar Buddies in der Villaggio Osteria in Jackson Hole. Wieder daheim, muss noch die Einfahrt freigeschaufelt und der Wetterbericht gecheckt werden, während schon wieder dicke Flocken die Rockies bedecken.
Der Tag ist voll für Jimmy Chin.
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Film-Trailer:
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