WETTERLEUCHTEN IM KOPF
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Wozu reisen wir? Weshalb entsprechen Sehnsuchtsorte selten ihrer Realität? Wo ist die Schnittstelle zwischen Innen- und Außenwelt? Diesen Fragen geht der englische Autor Geoff Dyer in seinem Buch White Sands unterhaltsam nach.
(Der Standard / Album, November 2017, online in gekürzter Form)
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In seinem jüngsten Buch White Sands sucht Geoff Dyer auf zahlreichen Fluchten über den Horizont wie ein Geigerzähler nach der auratischen Ausstrahlung von Sehnsuchtsorten, um diese nach dem Wahrheitsgehalt ihres Versprechens abzuklopfen.
Seine Reisen sind Pilgerfahrten zu Orten in der äußeren Welt, die womöglich nur in seiner inneren Welt Bedeutung haben. In steter Neugier untersucht er aber auch weiße Flächen auf seiner inneren Landkarte, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie die eigene Seele beschaffen sein mag, in ihrer Erfahrung von Raum und Zeit.
Dyer, 1958 geborener Working-Class-Spross und globetrottender Slacker, schlägt eine wichtige Brücke zwischen Reiseliteratur und blitzgescheiter Kunst- und Naturbetrachtung in der Nachfolge von Roland Barthes und Annie Dillard sowie seines intellektuellen Lehrmeisters John Berger.
Dabei dreht sich in vielen seiner Werke eigentlich alles um eines: nämlich um Geoff Dyer. Gleichzeitig ist dieser sehr englische Hyper-Hipster aber auch ein Mann der Tat, der (wie jeder Schreibende, der noch einigermaßen bei Vernunft ist) nur zu gern jede Gelegenheit ergreift, seinen Arbeitstisch zu verlassen. Etwa um einen Skyspace des Lichtkünstlers James Turrell zu besuchen, eine Vorführung seines Lieblingsfilms Stalker von Andrei Tarkowski oder einen Gig des Hypnose-Jazz-Trios The Necks.
Erwartungsgemäß ist Geoff Dyer immer dann am besten und witzigsten, wenn er seine hohen Ansprüche an ästhetische und natürliche Phänomene schwer enttäuscht sieht und dies mit genussvoll-Bernhardesker Selbstkasteiung und fassungslosem Gram zur Kenntnis nehmen muss. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist sein Essay A Journey On the Quiet Carriage über die Unmöglichkeit der (seinem empfindsamen Seelenleben so zuträglichen) Stille in den Ruheabteilen britischer Züge.
Weitere heitere Mahnmahle der Unerfülltheit findet die Leserin in Dyers Coverversion von Thomas Bernhards Beton, im Roman Aus schierer Wut: „Offen gestanden war es auf Alonnisos unmöglich, überhaupt irgendetwas zu tun. Ich hatte gedacht, nach der morgendlichen Arbeit an meinem Buch über Lawrence und der Lektüre von Rilkes Briefen würde ich die Nachmittage damit verbringen, Tennis zu spielen, aber es gab keine Plätze, weshalb ich, nachdem ich Morgen für Morgen damit verbracht hatte, mein Buch über Lawrence nicht zu schreiben und Rilke nicht zu lesen, die Nachmittage damit verbrachte, nicht Tennis zu spielen.“
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Der Umweg als Ziel
Ob die Erzählungen in White Sands geschickt ineinander verzahnte Reportagen, oder Fragmente eines post-postmodernen Romans sind, lässt sich nicht so einfach ergründen. Und das ist wohl auch ganz im Sinne des Autors: Die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion verschwimmen wie jene von Asphalt und weißem Wüstensand in der Titelgeschichte.
Bereits seiner ersten Sammlung von Reisegeschichten Reisen, um nicht anzukommen (orig.: Yoga For People Who Can’t Be Bothered To Do It, 2003), quasi der Vorgänger von White Sands, war in kesser Ironie ein Vorwort vorangestellt, in dem es heißt: „Alles in diesem Buch ist wirklich geschehen, aber manches davon ist nur in meinem Kopf geschehen. Genauso wie alles, was nicht passiert ist, auch nicht in meinem Kopf passiert ist.“
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Reisen, um nicht anzukommen führte seine LeserInnen zur sonnengebleichten Ruinenlandschaft Leptis Magna in Libyen, auf einen an Slapstick reichen Pilztrip in Amsterdam, in einen Infinity Pool auf Bali, zu einem Elektronik-Clubbing in Detroit, in die Gluthitze eines de-Chirico-haften Roms, in das lauschige Sanctuary von Koh Pha-Ngan und zum Burning Man Festival in die Wüste Nevadas.
White Sands geizt ebenfalls nicht mit faszinierenden Orten (die titelgebende Gipswüste White Sands, Smithsons Spiral Jetty in Utah, De Marias Lightning Field in New Mexico, Gauguins Tahiti, norwegische Nordlichter, ein Flirt in Peking, ein Besuch in Adornos Villa in L.A.) und sein Autor nicht mit den gewohnten Überblendungen ins Philosophische: Abhandlungen über Jazz, Fotografie und Land Art, um achteinhalb Ecken gedachter Konzeptkunst-Bullshit und Reflexionen über die innere Finsternis zur Mittagshelle des Lebens.
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Interview mit Geoff Dyer über die Bedeutung von Orten
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In den meisten seiner Stories von unterwegs tastet sich Geoff Dyers Ich-Erzähler leicht posttoxisch-depressiv, aber äußerst amüsant an kulturmorphologischen Spannungslinien der antiken und der modernen Welt entlang. Doch war Reisen, um nicht anzukommen noch eines jugendlich-rastlosen Geistes Kind, ist der 15 Jahre ältere Geoff Dyer in White Sands am Strand von Venice Beach angekommen und mit einer erfolgreichen Expertin für moderne Kunst, Rebecca Wilson (im Buch „Jessica“ genannt), verheiratet.
Und war der Psychonaut Dyer um die Jahrtausendwende noch an potenten Gras-Sorten, Ninja-Tune-Parties und Yoginis am Traumstrand interessiert, so ist für den heutigen Fellow der Royal Society of Literature und der American Academy of Arts and Sciences der formvollendete Cappuccino und das extra geröstete Nuss-Croissant im Stamm-Café (das passenderweise und zum Augenrollen einladend „Intelligentsia“ heißt) der Höhepunkt des Tages.
Dies tut freilich seinem lakonischen britischen Witz keinen Abbruch. Eher bringt es sogar noch die eine oder andere zusätzliche Ebene des ästhetischen Verständnisses und der reifen Abgeklärtheit in sein Werk ein. Nur: Wo Geoff Dyer in früheren Büchern blitzgescheit war, ist er heute oftmals neunmalklug. Vielleicht hat das ja mit den Erwartungen seiner Auftraggeber zu tun, denn alle neun Kapitel, von denen nur drei außerhalb der USA spielen, sind als Kommissionsarbeiten für etablierte Blätter (Harper’s, Financial Times, The New Yorker, Granta, etc.) entstanden.
Daher muss der aufmerksame Dyer-Leser schon auch feststellen, dass manche seiner zerebralen Expeditionen ähnlich enttäuschend sind wie einige der an Enttäuschungen nicht armen „magischen“ Orte. Zuweilen möchte man gemeinsam mit dem Autor, dem sich etwa die berühmte aurora borealis nicht und nicht zeigen will, ausrufen: „Es gab nichts zu sehen! Wir reisten mit leeren Händen und leeren Augen wieder ab.“
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Scheitern, aber grandios
Die Nordlichter zeigen sich erst auf dem Rückflug, und zwar auf der anderen Seite des Flugzeugs, nachdem der Erzähler und Jessica tagelang bei „tausend Grad minus“ in einem Hundeschlitten vergeblich durch die Eiswüste des Polarkreises gekarrt wurden. Auch Walter De Marias Kunst-Installation The Lightning Field will dem viel geprüften Ästheten nicht den Gefallen tun, ein Gewitter anzuziehen. Dyer zieht sich mit klassischer Fuchs-und-Trauben-Strategie aus der Affäre und erklärt, es sei geradezu vulgär, im Lightning Field Blitze zu erwarten.
Die bekannte Land-Art-Spirale The Spiral Jetty erscheint ihm regenverwaschen, halb versunken und kleiner als auf den Fotos, die den Künstler Robert Smithson vor seinem Kunstwerk zeigen, „von wo aus er dialektisch seine eigene Spiegelung betrachtet und dabei aussieht wie Jim Morrison oder wie Val Kilmer, der in Oliver Stones Film Jim Morrison spielt.“
Doch, wie eingangs erwähnt, sind Enttäuschungen so etwas wie ein Spezialgebiet dieses philosophischen Flaneurs. Das sieht er selbst nicht anders: „Meine enorme Kapazität für Enttäuschungen sehe ich als Errungenschaft, als Sieg. Sie ist Beweis dafür, wieviel ich noch von der Welt erwarte.“
So erwartet er sich im ersten Kapitel, auf einer Reise nach Tahiti, nichts weniger, als in ein Gemälde von Paul Gauguin einzutreten. Doch Gauguins Tahiti ist unauffindbar, wie es auch schon zu Gauguins Zeiten unauffindbar war, weshalb der Maler bald auf das abgelegenere Hiva Oa weiterzog.
In Papeete trifft Dyer auf schwergewichtige Insulaner mit Insulin-Überschuss, sieht sich gezwungen, in sündhaft teuren Restaurants zu speisen und vertraut einem Mitreisenden an: „Wir sind gar nicht in Polynesien, wir sind in einem Vegas-Casino namens Tahiti oder Bounty.“ Darüber hinaus ist er entsetzt, dass auf den Dosen mit einheimischem Ananassaft zu lesen ist: „Künstliche Aromastoffe!“, so als ob der Mangel an Natürlichkeit besonders verkaufsfördernd sei.
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Reflexionen aus dem beschädigten Leben
Von diesem verwirrenden Spiel zwischen Original und Illusion, sowie dem kosmetisch Nachgestellten der ursprünglichen Natur, um diese möglichst natürlich erscheinen zu lassen, ist es dann auch nicht mehr weit zu Theodor W. Adorno, den Dyer „bereits seit 1986“ liest (gequält seufzen, bitte jetzt!). Dessen Exil-Haus in Pacific Palisades stattet er einen Besuch ab, nur um auf dem Weg dorthin eine blutige Spur an kulturellem Namedropping (Hegel, Hitchcock, Horkheimer, Fitzgerald, Nabokov, New Age, Goa, Peter Lorre, James Brown und Conan der Barbar) zu legen.
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Was immer es ist, das ihn magnetisch an bestimmte Orte zieht, welche Echos von Sehnsucht und Resonanzen von Ideen er in White Sands sucht, lässt erahnen, dass Geoff Dyer von der Welt überhitzt und überfordert ist, und sich nach Abkühlung, Reduktion, ja, nach Auflösung sehnt.
So wie das im Bildteil des Buches abgedruckte Foto eines leeren, netzlosen und somit nutzlosen Fußballtores aus der Serie Salzburg (1977) von Luigi Ghirri, das sich in minimalistischer Komposition aus seiner eigenen Realität zurückzuziehen scheint. Im letzten Kapitel mit dem Titel Beginn wird sogar der Autor selbst beinahe seiner eigenen Auflösung ins Auge sehen müssen.
Leider sind die Stories Verbotene Stadt und Die Ballade von Jimmy Garrison schlichtweg nicht ganz auf der erzählerischen und gefühlsintensiven Höhe der übrigen – wie etwa die Niederschrift der Erfahrung seines tatsächlichen (leichten) Schlaganfalles im Januar 2014 ( „Die halbe Welt war verschwunden!“) oder die hochkomische Titelgeschichte mit Riders on the Storm-Anklängen. Ein Auszug:
„Der Autostopper schwieg, als wir auf dem Highway 54 von White Sands nach El Paso südwärts fuhren. (…) Wir hatten geklärt, woher wir kamen und wohin wir unterwegs waren, und eine angenehme Atmosphäre breitete sich im Wagen aus. Dann, weniger als eine Minute später, wurde diese angenehme Atmosphäre durch ein Schild aufs Jähste gestört:
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ACHTUNG!
KEINE ANHALTER MITNEHMEN
VOLLZUGSANSTALTEN IN DER UMGEBUNG
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Ich hatte das Schild gesehen. Jessica hatte das Schild gesehen. Unser Autostopper hatte das Schild gesehen. Wir alle hatten das Schild gesehen und das Schild hatte unser Verhältnis zueinander grundlegend verändert. (…) Ich guckte Jessica nicht an. Sie guckte mich nicht an. Das war nicht notwendig, denn auf eine gewisse Weise guckte jeder jeden an. Abgesehen davon, dass wir nicht schauten, sprach auch niemand ein Wort. Ich habe immer an das Konzept der Schwingungen geglaubt: gute Schwingungen, schlechte Schwingungen. Nachdem wir das Schild gesehen hatten, veränderten sich die Schwingungen im Auto – die sehr gute Schwingungen gewesen waren – komplett und wurden zu sehr schlechten Schwingungen.“
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White Sands ist vielleicht nicht Dyers ausgewogenstes Buch, aber auf jeden Fall ein wegweisender Ansatz, wohin sich gewitzte, zeitgenössische Reiseerzählungen abseits des Fahrwassers eines Bruce Chatwin oder Paul Theroux entwickeln können. Und: eine passende Gelegenheit, um auf Dyers bisherige Werke aufmerksam zu machen (But Beautiful (dt. „But Beautiful: Ein Buch über Jazz”); Out of Sheer Rage – Wrestling with D.H. Lawrence (dt. „Aus schierer Wut: In D.H. Lawrence’ Schatten“); Paris Trance (dt. „Paris XTC“); Jeff in Venice, Death in Varanasi (dt. „Sex in Venedig, Tod in Varanasi“); u. a.).
Das Buch endet an der Abbruchkante der westlichen Welt, in Santa Monica, wo sich ein psychedelischer Sonnenuntergang im knallrosa Himmel über dem Pazifik zusammenbraut. Und letztendlich kommt der Autor zur Erkenntnis, dass es sein eigenes, stets neugieriges Gehirn ist, das eine spiralförmige Anlegestelle im Nirgendwo, und, mit seinem Wetterleuchten der Assoziationen, das eigentliche, von Geistesblitzen umzuckte Lightning Field bildet. Geoff Dyer: „Das Leben ist so interessant, dass ich gern für immer bleiben würde, nur um zu sehen, was passiert, worauf das alles hinausläuft.“
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Geoff Dyer ::: White Sands. DuMont, 2017. Deutsch von Stephan Kleiner. 352 S., geb. 24 €. Erscheinungsdatum: 19. September 2017
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Mögliche Nachbarn im Regal (auf Deutsch, sofern übersetzt):
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Alain de Botton ::: Kunst des Reisens
Umberto Eco ::: Travels In Hyperreality
Gaston Bachelard ::: The Poetics of Space
Annie Dillard ::: Teaching a Stone to Talk
Gretel Ehrlich ::: Islands, the Universe, Home
Don George (Ed.) ::: Tales From Nowhere – A Lonely Planet Reader
Christian Kracht ::: Der gelbe Bleistift
Christian Kracht ::: New Wave
Helge Timmerberg ::: Tiger fressen keine Yogis
Helge Timmerberg ::: Der Jesus vom Sexshop
Marc Fischer ::: Die Sache mit dem Ich
Dennis Gastmann ::: Atlas der unentdeckten Länder
Christoph Ransmayr ::: Atlas eines ängstlichen Mannes
Roger Willemsen ::: Die Enden der Welt
Kapka Kassabova ::: Geography for the Lost
Matthias Politycki ::: Schrecklich schön und weit und wild
Truman Capote ::: Die Hunde bellen
Walter Benjamin ::: Illuminationen
Theodor W. Adorno ::: Minima Moralia
Rebecca Solnit ::: Aus der nahen Ferne
Karl Ove Knausgård ::: Das Amerika der Seele: Essays
Rachel Cusk ::: Outline
Jonathan Raban ::: Driving Home
Pico Iyer ::: Falling Off the Map
Paul Theroux ::: Fresh Air Fiend
Bruce Chatwin ::: Was mache ich hier
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Geoff Dyer ::: White Sands (Originalausgabe)
(Pantheon, 2016; 256 S.; 15,99€)
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