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::: Fosco Maraini :::

TERRA MAGICA

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Fosco Maraini (1912 – 2004) ist im deutschsprachigen Raum vorwiegend als Vater der Schriftstellerin Dacia Maraini bekannt. Sein meisterhaftes fotografisches Werk über die alten Kulturen Asiens machten ihn in den 1950er Jahren weltweit berühmt. Er selbst verstand sich als Diener der Schönheit in Kunst und Natur. Der italienische Fotograf, Anthropologe, Alpinist und Literat im Porträt.

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Ein geradezu wunderbar gelungenes Leben lebte Fosco Maraini aus Florenz.
Leichtigkeit des Herzens, Urvertrauen, Abenteuergeist, ästhetisches Verständnis, Mitmenschlichkeit und Geradlinigkeit prägten sein Sein. Er strahlte verschmitzten Optimismus aus, begleitete als Fotograf Expeditionen zu den Weltbergen, lehrte Italienisch in Japan und japanische Literatur in Italien.

Familienmitglieder und Weggefährten, die ihn kannten und von ihm erzählen, erinnern sich mit großer Zuneigung an einen klugen, vor Vitalität sprühenden Mann, der sich in einem sizilianischen Palazzo genauso zu Hause fühlte wie in einer staubigen Lamaserie, und in einem Tempel Kyotos genauso wie in einem Zelt auf dem Baltoro-Gletscher im Karakorum.

Seine gefeierte, in dritter Person verfasste Autobiografie Case, amori, universi (erschienen 1999 bei Mondadori, auf Deutsch etwa: „Häuser, Lieben, Universen“; bislang liegt keine Übersetzung vor) erzählt über sein Leben aus den verschiedensten Blickwinkeln seiner Interessen und Leidenschaften: Schönheit, Kunst, der Ferne Osten, verschwindende Völker, das Meer, Berge, Berge und immer wieder Berge.

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Bezauberndes Baltistan: Der Fünftausender Bakhor Das in der Mango-Gusor-Gruppe. Aus: Karakorum

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Fosco Maraini kommt am 15. November 1912 in Florenz zur Welt. Seine Mutter ist die englische Schriftstellerin Yoï Crosse, deren Geschichte schon alleine romantisch genug ist, um sie zu erzählen. Verheiratet mit einem walisischen Offizier, mit dem sie zwei Kinder hat, verlässt sie die Familie, um mit dem Diplomaten Sir Coleridge Kennard zusammen zu leben.

Kennards Mutter ist von der Affäre mit der mittellosen Dichterin entsetzt und lässt ihren ganzen Einfluss geltend werden, um eine Versetzung ihres Sohnes zu bewirken. Der Plan der ungnädigen Schwiegermutter geht auf und Kennard wird nach Rom und später nach Teheran versetzt.

Yoï indessen lässt sich nicht entmutigen und folgt ihrem Geliebten in den Orient nach. Doch bald schon verliert der so heftig Umworbene das Interesse an der amour fou und Yoï muss wohl oder übel die Segel streichen. Zurück in Rom macht sie die Bekanntschaft eines jungen Bildhauers aus dem alpinen Tessin, Antonio Maraini. Die beiden verlieben sich und werden Eltern zweier Söhne, Fosco und Grato.

Den Ersten Weltkrieg verbringen sie mit Verwanden Yoïs in London, wo Fosco bis zu seinem zwölften Lebensjahr aufwächst. Eine Tante versucht ihm die englische Küche nahezubringen, indem sie ihm einredet, Essen solle gar nicht schmecken, und schon gar nicht genossen werden, sondern stärken – eine gute Vorbereitung des späteren Forschungsreisenden auf eingelegte Schafsaugen, steinharte Butterkekse und Fladen mit ranziger Hammelfett-Tunke.

Eine weitere gute Gabe der Tante für Foscos weiteren Lebensweg: eine Kodak-Kamera.

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„A la spiaggia“ (Am Strand). Fosco Marainis erstes preisgekröntes Foto zeigt bereits Sinn für Bildaufbau und Licht

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Mitte der 1920er Jahre bewohnt die junge Familie den prachtvoll restaurierten Torre di Sopra, einen alten Wachturm in den Weinbergen über Florenz, den man übrigens dieser Tage mieten kann. Der Vater Antonio hat es weit gebracht und ist gleichzeitig eine zutiefst problematische Figur. Als bildender Künstler, als Kunstkritiker und auch als Poet genießt er unzweifelhaft guten Ruf.

Seine Arbeiten sind in der Grabkapelle Giacomo Puccinis verewigt, bei der Biennale in Venedig glänzt er in den 1930er Jahren als Generalsekretär, Kurator und Redner. Er ist charismatisch, wortgewandt – und begeisterter Mussolini-Anhänger. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Untergang des Faschismus gerät sein Werk in Vergessenheit und sein Name vergilbt im Bewusstsein der Öffentlichkeit.

Sein Sohn Fosco ist alles andere als ein Faschist. In seinem Leben wird er einige Gelegenheiten erhalten, dies auch unter Beweis zu stellen. Die erste ist jene, als sein Vater ihm die Partei-Mitgliedskarte der PNF hinhält, die er für jeden seiner Söhne organisiert hat. Fosco sieht die Karte kurz nachdenklich aus schmalen Augen an. Dann zerreißt er sie, entschuldigt sich beim Vater und verlässt das Haus. Die Fetzen der Parteikarte wirft er draußen in die Luft. Weit trägt sie der Wind.

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Fosco entgeht der Aufruhr der Massen, das Gedröhne und Geplärre der Militaristen und Nationalisten in und um Florenz nicht. Viele seiner Freunde lassen sich von einer Ideologie der Unbarmherzigkeit verführen. Diskussionen mit aggressiven Rechten scheut er nicht. Er respektiert den Menschen hinter der Meinung, doch lässt ihn wissen, dass er von faschistischer Gleichschaltung und rassistischer Abwertung anderer Völker nichts hält.

Er inskribiert an der Universität Florenz Naturwissenschaften und Anthropologie, unterrichtet nebenbei Englisch für Kadetten der Marine-Akademie von Livorno und zieht mit Freunden durch die Ost- und Westalpen. Obwohl in seinem Tourenbuch von 1929 bis 1937 schwierige Wände und anspruchsvolle Gipfel verzeichnet sind, ist Fosco kein „harter Kerl“, sondern ein Gentleman-Bergsteiger europäisch-urbaner Prägung.

In Südtirol und Belluno klettert er viel alleine, aber auch mit dem Triestiner Bergführer Emilio Comici, Sandro dal Torso und mit Tita Piaz, dem „Teufel der Dolomiten“, in der Cattinacio-Gruppe (Rosengarten) und an den Tre Cime (Drei Zinnen). Etwa den Preuß-Riss an der Cima Piccolissima (Preuß-Turm) und die klassische Dülfer-Route an der Cima Grande.

Der jugendliche Fosco, porträtiert von seiner Frau Topazia, 1933. Öl auf Leinwand

Er fährt im Winter begeistert Ski und unternimmt im Sommer ausgedehnte Ausflüge mit dem Motorrad, um Italien kennenzulernen, bevor es ein Land wird, das er nicht mehr wiedererkennt. Erste Schiffsreisen führen ihn ins östliche Mittelmeer, er besucht Aleppo, Damaskus, Beirut, Kairo und erkundet die griechische Inselwelt.

Mit dabei auf allen Ausflügen: seine Kamera. Mit 16 eröffnet Fosco die erste Ausstellung im Innenhof eines Freundes, zwei Jahre später nimmt er bereits an einer Fotoausstellung über futuristische Fotografie in Rom teil. 1936 gewinnt er den Ferrania-Preis und mit ihm eine Leica IIIA, die mit ihrem neuen Besitzer durch die weite Welt reisen wird.

Fosco Marainis Fotografie ist als außergewöhnlich atmosphärisch zu beschreiben. Dabei ist es nicht bloß die robuste Komposition (oft mit einem Objekt im Vordergrund, das mit einem anderen Objekt im Hintergrund thematisch korrespondiert), die Kontrastschärfe von Kaltnadelradierungen und die Besonderheit der Lichtstimmung, die ihn als Fotograf auszeichnen.

Vielmehr ist es Geistesgegenwart – die Gegenwart eines wachen, bescheidenen und vornehmen Geistes, die unmittelbar aus ihnen spricht. In seinen Bildern spürt der Betrachter einen Menschen hinter der Linse, der ein untrügliches Auge für das Schöne, für das Außergewöhnliche hat. Seine Bilder sind Momente, die oft nur mit großen Worten beschrieben werden könnten: Elemente, Kosmos, Menschheit, Zeit. Doch Fotografie braucht keine Worte.

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Pilger auf dem Weg nach Lhasa, 1948. Aus: Geheimnis Tibet

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Kangchendzönga (8586 m), Sikkim, 1937. Aus: Geheimnis Tibet

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Die Liebe der Frauen. Aus: Meeting with Japan

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Als Fotograf ist Fosco Maraini ein stiller und sensibler Beobachter wie Henri Cartier-Bresson. Und wie eben dieser ist er sehr oft zur rechten Zeit am richtigen Ort. Timing, das ist es. Maraini hat in seiner Arbeit, wie in seinem Leben wirklich gutes Timing und nutzt die Gunst des Augenblicks. Sein Lebensrhythmus und die Bewegung der Welt laufen in einem kontrapunktischen Muster zueinander.

Den Menschen begegnet er auf sehr sympathische, offene, brüderliche Art. Gleichzeitig weiß er aber auch um das kosmische Drama, das sich um (oder viel eher in?) uns abspielt, und um die Schattenseiten des Daseins – die scheinbar gleichgültige Grausamkeit der animalischen Natur, das Ausgeliefertsein des einzelnen Geschöpfes in einer unbegreiflichen, aber auch unbegreiflich schönen Welt.

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Er heiratet jung. Die Dame seines Herzens will er später nur wegen der Melodie ihres Namens gewählt haben, wie er ironisch erzählt: Topazia Alliata di Salaparuta, eine Prinzessin aus alter sizilianischer Familie, welche über die Liaison nicht gerade begeistert ist. Auch nicht über die gezeichnete Hochzeitskarte, die das Brautpaar mit entblößter Rückseite an einem einsamen Strand zeigt.

Die beiden stürzen sich dennoch Herz über Kopf in eine große gegenseitige Liebe. Drei Töchter entspringen der Verbindung: Dacia, Yuki und Toni (Antonella). Fosco schließt seine Studien ab und begleitet den Orientalisten, Tibetologen und Religionsforscher Giuseppe Tucci 1937 auf eine Expedition nach Tibet. Tucci ist zwar ein strammer Faschist, doch eine Koryphäe auf seinem Gebiet und politisch tolerant, solange die Qualität der Arbeit so hervorragend ist wie die Foscos.

Die Familie Maraini in Japan

1938 nimmt Fosco einen Lehrauftrag in Kansai und danach in Kyoto an, wohin er seine junge Familie bald nachkommen lässt. Den Zweiten Weltkrieg überdauern die Marainis und ihre drei kleinen Töchter notgedrungen in Japan.

Doch nach dem Verrat Badoglios und dem Überlaufen Italiens zu den Alliierten im September 1943 ändert sich die Situation für italienische Staatsbürger in Japan schlagartig. Die Familie wird aufgrund von Foscos Weigerung, Mussolinis Republik von Salò anzuerkennen, als „wenig zuverlässige Zivilisten“ in einem Konzentrationslager bei Nagoya interniert.

Zwei Jahre verbringen sie unter Bedingungen, die so grauenhaft sind, dass Fosco gegen die brutale Lagerleitung demonstriert, indem er während des Küchendienstes zu einer handfesten Maßnahme greift: Als ein Wärter die italienischen Gefangenen als Feiglinge bezeichnet, hackt er sich mit einem Beil das oberste Glied des linken kleinen Fingers ab und wirft es ihm gegen die Brust, um zu zeigen, dass er keine Angst hat.

Nach den Atombombenabwürfen der Amerikaner über Hiroshima und Nagasaki (6. und 9. August 1945) und der Kapitulation Japans wird Fosco acht Monate lang Übersetzer für die US-Besatzung in Tokyo. Durch diese Arbeit verdient er genug Geld um sich und der Familie die beschwerliche Schiffsreise in ein zerstörtes Europa zu ermöglichen, wo die Marainis bei den Eltern Topazias in Bagheria auf Sizilien aufgenommen werden.

1948 geht Fosco auf seine zweite Tibet-Reise (wieder mit einem Tucci-Team und diesmal mit Tenzing Norgay). Die beiden Expeditionen bilden die Grundlagen für Foscos drittes Buch, das vollkommen zu Unrecht in Vergessenheit geratene Secret Tibet (Segreto Tibet; 1951. Auf Deutsch als Geheimnis Tibet erschienen).

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Tänzer mit Hirschmaske, Kirimtse Kloster, Tibet. Aus: Geheimnis Tibet

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Das Buch ist von der ersten Seite weg fesselnd, es lebt von seinen Figuren aus Fleisch und Blut, und es hält sich die Waage zwischen genauen Beobachtungen und poetischen Geistesflügen. Die uralte Kultur des Tibetischen Plateaus macht Fosco Maraini an drei „Grundpfeilern“ fest – Butter, Knochen und Stille:

„Butter ist eines der grundlegenden Charakteristika von Tibet. Das ganze Land ist voll damit. (…) Butter gibt es in den entlegensten Ortschaften zu kaufen, in den Tempeln und Kapellen wird sie den Göttern dargeboten, man formt meisterhaft Statuetten mit komplexen Verzierungen daraus; Butter wird in Lampen verwendet und man zahlt damit seine Steuern; Frauen fetten damit ihr Haar und ihre Gesichter; als Geschenk ist sie immer willkommen, man mischt sie mit Tsampa (geröstetes Gerstenmehl) und gibt sie in den Tee. In Tibet gibt es also Butter in Hülle und Fülle und man kann sich ihr nie wirklich entziehen.

Genauso omnipräsent wie Butter sind Knochen. Die Knochen toter Tiere werden nicht vergraben oder aus Sichtweite verbannt. Nirgendwo sonst, so weit ich weiß, sieht man so viele Gerippe, Schädel, Schenkelknochen, Wirbel und Skelette wie entlang der Hochpässe und Straßen Tibets. (…) Man lässt sie einfach herumliegen wie Steine. Kinder spielen mit ihnen und bewerfen einander damit. (…) Es scheint auch, als gäbe es einen aktiven Grund für diese augenscheinliche Passivität. Die Tibeter betrachten Knochen wie Blumen: als Dekoration, als Teil einer angenehmen Umgebung. Sind sie möglicherweise ein Memento der Vergänglichkeit, der Illusion unserer Welt, die wir hinter uns lassen müssen, so wir unsere Seelen erlösen wollen? Wer weiß…

Die dritte charakteristische Eigenheit Tibets, nach der Butter und den Knochen, ist die ungeheure Stille. Die moderne Physik spricht von einem vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum. Tibet ist ein vierdimensionales Raum-Stille-Kontinuum. Da ist einerseits die ockergelbe Stille des Gesteins; das eisgrüne Schweigen der Schneegipfel, die Lautlosigkeit der Ebene, über der sich ein Falke in die Höhe schraubt, immer höher, hinauf zur Sonne.

 

„Prima della Tempesta“ (Vor dem Sturm): Das Kloster Iwang. Aus: Geheimnis Tibet

 

Und dann gibt es jene große Stille, die alles reinigt, zur Essenz destilliert; eine Stille, in der Butter gerinnt, in der Knochen zu Staub zerfallen und die einen mit einer träumerischen Süße des Daseins erfüllt, als hätte man ein vor undenklichen Zeiten verlorenes Vaterland wiederentdeckt.“

Fosco Maraini beschreibt in Geheimnis Tibet den landschaftlichen Zauber dieses verlorenen Vaterlandes, die erhabene Schönheit der Berge rund um das Chumbi Valley, die Eigenarten des Tibetischen Buddhismus, Begegnungen und Gespräche mit Handwerkern, Händlern und Lamas, das Kloster von Kyangphu, den fünfstöckigen Kumbum-Chörten von Gyantse und die sikkimesische Königsfamilie.

Das ikonische Cover des Buches ziert die tibetische Prinzessin Pema Chöki (a.k.a. Kula), eine der drei Töchter des Chögyal Tashi Namgyal von Sikkim, mit der Fosco bei seiner zweiten Durchreise in Gangtok 1948 ein ebenso frivoler wie unschuldiger Flirt verbindet. In seinen Aufzeichnungen der Reise ist Pema Chöki auch so etwas wie eine Muse, die ihm bei seiner Rückkehr nach Gangtok frisches Obst und ein Grammofon mit Musik von Mozart, Scarlatti und Brahms ins Zelt bringen lässt („Ich badete in den Klängen wie in einem frischen, klaren Bach, nach all dem Staub, Schweiß und Mühsal“, schreibt Fosco).

Als kluge und belesene Frau erklärt sie ihm auch die Psychologie Tibets: „Wir sind keine Kultur von Heiligen und Asketen, die für die Reize des weltlichen Lebens unempfänglich sind. Lest die Gedichte unseres großen Dichters Milarepa, wenn Ihr uns verstehen wollt. Sie handeln von Gier, Zaubersprüchen und Leidenschaft, von Rache, Verbrechen, Liebe, Eifersucht und Folter. Außerdem: Wozu sollte das Dharma des barmherzigen Buddha gelehrt werden, wenn wir immerzu gut und tugendhaft wären.“

Von Lhasa spricht Pema Chöki wie von einem Paris Zentralasiens („Ah, die Parties von Lhasa…!“) und für den bald aus Sikkim abreisenden Fosco hat sie noch einen Auftrag kosmetischer Natur: „Apropos, wie heißt der Lippenstift, den ich Euch gebeten habe, mir aus Kalkutta zu schicken? Ihr habt es vergessen, nicht wahr?“
„Riv … rab … mir fällt es gerade nicht ein.“
„Es war Revlon, Bachelor’s Carnation… wagt nicht, es noch mal zu vergessen! Ich verlasse mich auf Euch. Vergesst es nicht, ja?“

Das aufwendig gestaltete Buch wird in zwölf Sprachen übertragen und verkauft sich in der englischen Übersetzung – auch im Zuge des Welterfolges von Heinrich Harrers Sieben Jahre in Tibet (1952) – überraschend gut. Es wird, wie Harrers Bericht, zu einem der letzten zeitgenössischen Zeugnisse des alten Tibet.

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Baum an einsamer Küste. Aus: Meeting with Japan

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Japan, das Fosco mittlerweile ausgezeichnet kennt und immer wieder besucht, wird zum Thema eines seiner nächsten Bücher: das umfangreiche, mit Illustrationen und gewohnt starken Fotos angereicherte Ore Giapponesi (engl. Meeting With Japan; 1960). Seine Bilder bezeugen auch einige archaische Kulturen Japans, etwa die der Ainu, eines Jägerstammes auf der nördlichsten Insel, Hokkaido, sowie die der Ama auf Hekura, die barbusig und todesmutig alleine an Leitschnüren am schillernden Meeresboden nach Muscheln tauchen. Doch auch die zähen, wettergegerbten Landarbeiter Kalabriens verkörpern eine uralte und im Zuge der Modernisierung verschwindende Welt, die Fosco in seinen Fotografien verewigt.

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Ama Taucherin. Aus: The Island of the Fisherwomen

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x1958 begleitet Fosco Maraini als Fotograf und Chronist die Besteigung des Siebentausenders Gasherbrum IV (r’gashar brum bedeutet auf Balti soviel wie „leuchtender Berg“) im Karakorum-Himalaya. Dem Team um die beiden bergsteigerischen Zugpferde Carlo Mauri und den einzigartigen Walter Bonatti, unter der Leitung von Riccardo Cassin, gelingt die Erstbesteigung des formschönen Giganten. Fosco selbst erreicht dabei eine Höhe von 7200 m.

Eisige Braut: Die Chogolisa mit einer Zirrus-Wolke, die den nahenden Monsun ankündigt. Zirren sind gefrorene Dunstschleier, oft in Federform. Aus: Karakorum

Die italienische G4-Expedition ist in diesem Sommer nicht die einzige im zentralen Karakorum. Ein amerikanisches Team erreicht, nur ein Gletscherbassin weiter östlich, den bis dato unbestiegenen Gipfel des Gasherbrum I (8080 m, wegen seiner versteckten Lage auch als Hidden Peak bekannt).

Eine japanische Expedition der Universität Kyoto, welcher die Besteigung der benachbarten Chogolisa II (7654 m, auch Bride Peak) gelingt, an deren Ostgrat im Jahr zuvor die Tiroler Bergsteiger-Legende Hermann Buhl abgestürzt ist, findet dessen Tagebuch und persönliche Gegenstände im Wind-zerfetzten Zelt. Fosco und Bonatti nehmen die Relikte von den Japanern entgegen, um sie Buhls Witwe Generl in Europa zu überreichen.

Fosco führt über die Expedition in jeder Hinsicht genau Buch: ethnologisch, geografisch, alpinistisch, ästhetisch, psychologisch und, wie von ihm gewohnt, voll Humor und Poesie. Das Lagerleben im weltfernen Winkel des oberen Baltoro ist Fosco viele unterhaltsame Eintragungen wert. Eindringlich beschreibt er die Sehnsucht der acht Bergsteiger – freiwillig gefangen in ihrer überirdischen Welt aus Schnee und Eis – nach Weiblichkeit und Vitaminen.

So notiert er im Gasherbrum-Basislager, Anfang Juli 1958: „Nachts, in unseren Träumen, werden wir unserer intimsten Sehnsüchte gewahr. Traum eins, der häufigste und befriedigendste, stets höchst willkommen, vor allen anderen Manifestationen sinnlicher Wollust: Salat. Ah, göttlicher, grüner Salat! Knackige Salatblätter, zarteste Endivien, sprießende Gewächse, Symbole des Lebens. Erinnerung an Feld und Wiese, kühl und schattengeweiht.
Das saftige Fleisch der Paradeiser, der üppigsten Gabe der Erde, Rubin der Gemüsewelt, ein unerreichbares Privileg für uns Sterbliche. All dies würden wir in Olivenöl tränken, mit Essig und Zitronensaft beträufeln. (…) Es ist ein Traumreigen von grünen Gerichten, der uns heimsucht, von Früchten und Säften von Früchten: Chlorophyl-Visionen, grüne Schatten botanischer Gärten, ein himmlisches buddhistisches Fest…

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K2, 8611 m. Zum zweithöchsten Berg der Erde notierte Fosco Maraini 1958: „Kappa Due. Die bloßen Knochen eines Namens, die nicht einmal den Versuch unternehmen, menschlich zu klingen. Sie bezeichnen einen Berg, der aus Fels, Eis, Sturm und Abgründen besteht. Unfassbar wie Atome und Sternenstaub. Er steht da in der Nacktheit einer Welt, lange vor dem ersten Mensch und einer verbrannten Welt, lange nach dem letzten.“ Aus: Karakorum

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Traum zwei, neben der Salatschüssel, dreht sich um die Frau. Jedoch nicht in einem erotischen Sinn! Unser ganzes Sein verausgabt sich in der doppelten Anstrengung von Evaporation und Sublimation. Das Fleisch ist für uns nicht von Interesse. Nein, uns verlangt nach Zärtlichkeit, nach weichen und beschwichtigenden Stimmen. Nicht nach der Frau sehnen wir uns, sondern nach Weiblichkeit.

In diesen Höhen ist alles leblos und von der blassen Blankheit der Sterne. Alles Menschliche hier heroben ist rau und roh und schrecklich männlich. Schnee, Eis, Fels und Raum; das Firmament mit seinem himmlischen Kriegstreiben und mit seinen großmütigen Gesten des Friedens. Und in unserer niedrigeren Sphäre: die Eisaxt und der Piton, die Bärte und das Biestige, das Grunzen und Schwitzen. Die Frau unserer Träume ist ein Lächeln, eine sanfte und erfreuliche Stimme, eine Hand, die dir über die Schläfe streicht; nicht mehr.“

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Das Buch G4 – Karakorum über diese Expedition erscheint im Jahr darauf und ist heute noch ein Klassiker der Alpinliteratur, der jedoch nur noch antiquarisch erhältlich ist.

Genauso wie Where Four Worlds Meet über eine Expedition in den Hindukusch, wo Foscos Team 1959 die Erstbesteigung des Saraghrar (7360 m) gelingt. Das Buch ist zugleich eine Beschreibung der Berge und Täler des Chitral und eine fundierte Reflektion über den fließenden Austausch zwischen den alten Kulturen Europas, des Nahen Ostens, Indiens und Innerasiens.

Wie all seine Werke ist es gespickt mit scharfen, teils schalkhaften, jedoch immer mitfühlenden Beobachtungen aus einer vergessenen, kleinen Welt, die aus der großen, gegenwärtigen gefallen zu sein scheint.

Im Herbst 1959 wird Fosco Maraini eine fünfjährige Fellowship des St Antony’s College von Oxford zuteil, außerdem bereist er ausgiebig Israel, Palästina, Indien, Thailand, Nepal, Kambodscha und Korea. Ende der 1960er Jahre verbringt er wieder mehrere Jahre in Japan.

Nach der Trennung von Topazia, mit der sich Fosco über die Jahre auseinandergelebt (und auseinandergereist) hat, heiratet er 1970 nochmals: die temperamentvolle, unterhaltsame Japanerin Mieko Namiki, mit der ihn bis zu seinem Tod 2004 eine reiche Zeit des reifen Alters verbindet. Eine Zeit, gefüllt mit Besuchen von Gelehrten, Alpinisten, Filmemachern, Weggefährten und der Niederschrift von lautmalerischen, metasemantischen Gedichten, von denen sein wohl bekanntestes Il Lonfo heißt.

Casa Maraini: Fosco vor einem Relief seines Vaters im Torre di Sopra bei Florenz; Foto: A. M. Borgoni, Centro di Cultura Italia Asia

Fosco gilt nun als großer alter Herr der Orientalistik in Italien, als interkultureller Brückenbauer zwischen West und Ost, vergleichbar mit dem ebenfalls aus Florenz stammenden Journalisten und Asien-Kenner Tiziano Terzani. Seine Fotografien und Kunstgegenstände aus Asien werden dauerhaft in den orientalistischen Instituten von Florenz und Rom ausgestellt, seine Fotobücher erleben viel beachtete Neuauflagen. Aktiv, weltoffen und viel unterwegs bleibt er bis ins hohe Alter.

„Als ich geboren wurde, war Papa bereits auf dem Sprung zu seiner ersten Tibet-Expedition“, schreibt Dacia Maraini in Il gioco dell’universo – dialoghi immaginari tra un padre e una figlia (Mondadori, 2007) über ihren Vater Fosco, „doch eigentlich war er fortwährend fort.“ Und in ihren Kindheitserinnerungen Bagheria (Rizzoli, 1993): „Wann immer er zurückkam, aus der Weltweite, nahm ich ganz bewusst die Gerüche wahr, die er mitbrachte: Äpfel, schmutzige Wäsche, von der Sonne gewärmtes Haar, staubige Bücher, trockenes Brot, Pfeifentabak, gepresste, verwelkte Blumen und exotischer Tiger-Balsam gegen Rheuma.

Es war der Duft eines Einzelgängers, eines Mannes, der aller Bande schnell müde wurde, der von fast nichts leben konnte; ein Pilger, der es gewohnt war, am harten Boden zu schlafen. Er war abstinent und nüchtern und dennoch in der Lage, viel zu essen und zu trinken. Gute Gesellschaft liebte er, aber er war auf einem einsamen Berggipfel oder in einem einfachen Strandhaus genauso glücklich.

Und ich erinnere mich auch daran, was er mir über die Menschen gesagt hat: Dacia, vergiss nie, es gibt keine Rassen, nur Kulturen.“

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Hinweise: Bis 20. Oktober 2018 zeigt das Istituto Giapponese di Cultura in der Via Antonio Gramsci 74 in Rom eine Auswahl von Fosco Marainis Japan-Fotos.

Seine umfangreiche Asiatika-Bibliothek von ca. 9 000 Bänden und 90 000 Fotos vermachte Fosco Maraini dem Centro Asia Vieusseux in Florenz, das der Öffentlichkeit werktags zugänglich ist. Die orientalistische Bibliothek des Instituts kann gegen Voranmeldung besucht werden.

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Dokumentation: Il miramondo (RSI/RAI 2004; 30 min.)

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Ausgewählte Bücher:

Secret Tibet (1952)
G4 – Karakorum (1959)
Meeting with Japan (1960)
The Island of the Fisherwomen (1962)
Where Four Worlds Meet (1965)
Tokyo (1976)
Gnosi delle Fànfole (1994)
Nuvolario (1995)
Case, amori, universi (2000)

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Auszeichnungen:

Orden der Aufgehenden Sonne, 3. Klasse, 1982
Japan Foundation Anerkennung, 1986
Photographic Society of Japan, Internationale Anerkennung, 2002
International Society to Save Kyoto’s Historic Environment (ISSK), erster Honorarpräsident

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