Hohe Luft
Perspektiven auf Die Wolken von Sils Maria (2014)
Eine Zugfahrt durch den Schweizer Vorfrühling. Wir lernen zwei sehr unterschiedliche Frauen kennen: Maria Enders (Juliette Binoche), eine gefeierte Schauspielerin, die sich ihrer Strahlkraft nicht mehr ganz sicher ist, und ihre junge, amerikanische Assistentin Valentine (Kristen Stewart).
Die Situation ist verfahren. Val telefoniert entnervt mit einer Anwaltskanzlei, um Marias Scheidung zu formalisieren, während die Wagonwände wackeln und knarzen. Draußen jagt unbeachtet eine Berglandschaft vorüber. Tunnels sorgen für Funklöcher. Dann klingelt auch noch das zweite Handy. Val schickt den unbekannten Anrufer in die Mobilbox.
Die Unterschiede im Status der beiden Frauen sind rasch ersichtlich, sobald wir Maria in ihrem Abteil begegnen. Sie ist der Boss. Ihre Schönheit ist naturgegeben, ihren Weltruhm und die damit einhergehende Verwöhntheit hat sie sich hart erarbeitet. Sie lebt in einer von Erfolg zu Erfolg rasenden Raumkapsel, deren Richtung von Val kontrolliert wird. Val ist die Herrin von Marias Terminkalender, sie ist ihre Informantin über die Neuigkeiten aus dem Internet und ihr Draht zur Außenwelt.
Das nächste Ziel der Kapsel ist Zürich, wo Maria an einer Ehrengala für den exzentrischen Dramatiker Wilhelm Melchior teilnehmen soll, dem sie ihren Karriereauftakt verdankt. Vor zwanzig Jahren debütierte Maria umjubelt in seinem Bühnenstück Maloja Snake und dessen Verfilmung, worin sie die verführerische Sigrid spielte, die ihre ältere Vorgesetzte Helena in eine fatale Affäre hineinmanipuliert.
Doch Wilhelm ist tot, wie Val durch die eben eingegangene Sprachnachricht erfährt. Obwohl der Zug unvermindert weiterrattert, bringt die schreckliche Nachricht Maria und Val innerlich zum Stillstand. Der Tod hat der Dringlichkeit der Reise ein jähes Ende bereitet und der rasanten Zugfahrt ihre Bedeutung entzogen. Abblende und Ende des Prologs.
Bei der Trauerfeier für Wilhelm tritt der junge Regie-Rebell Klaus Diesterweg (Lars Eidinger) an Maria heran und bittet sie inständig, in seiner Neuinszenierung von Maloja Snake den Part der Helena zu übernehmen. Maria hingegen bittet sich erst einmal Bedenkzeit aus. Die Rolle macht ihr Angst, denn sie zwingt sie, sich mit ihrem eigenen Älterwerden zu konfrontieren.
Zudem hat Diesterweg für die Rolle der Sigrid ausgerechnet das aufstrebende Hollywood-Sternchen Jo-Ann Ellis (Chloë Grace Moretz) verpflichtet, eine Skandalnudel à la Lindsay Lohan, die sich mit grellbunten Sci-Fi-Blockbustern, Drogenexzessen und häuslicher Gewalt einen Namen gemacht hat.
Jo-Ann verkörpert genau das, womit die damals 18-jährige Maria ihre Figur Sigrid ausstattete: die rücksichtslose Ignoranz und rohe Arroganz der Jugend.
Eine Jugend, die sich heute trotz ihrer dem Zeitgeschehen geschuldeten Orientierungslosigkeit mit spielerischer Virtuosität in den Neuen Medien inszenieren kann.
Das gilt natürlich auch für Klaus Diesterweg, den Maria in einem Telefonat mit ihrem Agenten so beschreibt: „Er ist wie jeder Künstler seiner Generation. Er hat ein Gespür für PR. Herausragend zu sein und zu wissen, wie man es zeigt, heißt doppelt herausragend zu sein. Baltasar Gracián hat das gesagt.“
Auf Vals Drängen nimmt Maria das Projekt schließlich an, will später panisch wieder aussteigen, doch der Vertragsbruch käme ihr zu teuer. Also fügt sie sich widerwillig in ihr Schicksal.
Ewige Wiederkehr
Ein halbes Jahr später: Maria und Val fahren mit dem Auto von Zürich nach Sils Maria, wo Wilhelms Witwe Rosa (Angela Winkler) sie im entlegenen Haus der Melchiors empfängt. Bevor Rosa verreist, nimmt sie Maria mit zu der Stelle in den Bergen, an der sich Wilhelm das Leben nahm. In den folgenden Tagen ziehen sich Maria und Val für die Textproben in das behagliche Chalet zurück. Doch die Grenzen zwischen Theater und Wirklichkeit beginnen sich auf unbehagliche und nebulöse Weise aufzulösen…
Sinnlicher und sinnbildlicher Ausdruck dieses Mysteriums der Identitäten ist ein tatsächliches Wolkenphänomen: Gegenläufige Berg- und Talwinde drücken jeden Spätsommer vom Lago di Como riesige, weiße Nebel-Boas über den Maloja-Pass herauf, die sich majestätisch und unaufhaltsam durch das obere Engadin schlängeln.
Erstmals als Bewegtbild dokumentiert wurde diese Formation 1924, vom deutschen Bergfilm-Pionier Arnold Fanck. Rosa zeigt Maria und Val eine Kopie von Fancks Film und sagt: „Der Film ist fast hundert Jahre alt. Tatsächlich kommt das alles aus weiter Ferne. Es macht die Schönheit aus.“
Unvergesslich ist sie, diese Szene: Wir sehen drei Schauspielerinnen aus drei Generationen, mit drei höchst unterschiedlichen kulturellen Prägungen, gemeinsam fixiert auf das sublime Wolkenspiel in Schwarzweiß; ein Moment so zeitlos wie die karge, hochalpine Gegend von Sils Maria selbst. Mächtige Bergrücken, blendendes Eis, dunkelbunte Mischwälder und tiefblaue Seen: eine introvertierte und inspirierende Landschaft – erhaben über der Geschäftigkeit des modernen Alltags schwebend und durchweht von der hohen Luft europäischen Geistes.
Im nahegelegenen Hotel Waldhaus (ein späterer Schauplatz des Films) und in den Chalets der Silser Umgebung geben sich die großen Dichter und Denker, Maler und Musiker schon seit dem 18. Jahrhundert die Klinken in die Hand.
Friedrich Nietzsche wurde hier zwischen 1881 und 1888 von der Gedankenwelt seines Zarathustras überwältigt, „in einer reinen, scharfen Lichtwelt sechstausend Fuß jenseits von Mensch und Zeit“. Auf der bewaldeten Halbinsel Chastè wanderte er am liebsten, ersann das kosmische Konzept der ewigen Wiederkunft und ließ sich Gedanken und Sentenzen zufliegen, die er in Die fröhliche Wissenschaft, Ecce Homo, Menschliches, Allzumenschliches, Der Wanderer und sein Schatten, Genealogie der Moral und anderen Schriften verewigte. In Sils Maria wollte Nietzsche vogelfrei sein und „keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist“.
Auch Hermann Hesse suchte im gletscherkalten Fextal und auf den Hängen über dem Silser See nach Abkühlung seines überhitzten Seelenzustandes. Rilke, Einstein und Adorno waren ebenfalls da, genauso wie Annemarie Schwarzenbach, die Familie Mann, Marc Chagall, Stefan Zweig, Luchino Visconti, Thomas Bernhard und David Bowie. Und nun eben auch das ungleiche Paar „La Binoche“ und „KStew“ in diesem erstaunlich konstruierten und gut durchlüfteten Film-Gebäude aus Metaebenen von Olivier Assayas.
Ganz in der leichtfüßigen und komödiantischen Atmosphäre von Truffauts Die amerikanische Nacht (1973), drehte Assayas 1996 mit Maggie Cheung einen Film über das Filmemachen: Irma Vep, ein Kleinod des europäischen 1990er-Kinos, handelte von der unter einem schlechten Stern stehenden Neuverfilmung von Feuillades Les Vampires (1915), einer Gangstergeschichte um eine Juwelendiebin. (Assayas ließ die Figur der Irma Vep in einem HBO-Achtteiler mit Alicia Vikander erneut auferstehen. Anm., 2022)
Von der ekstatisch-rastlosen, koffeingetriebenen Erzählweise von Irma Vep, die so gut zum Chaos am Set des Films im Film passte, ist in Die Wolken von Sils Maria kaum noch etwas zu spüren. Vielleicht ist Assayas ja inzwischen Teetrinker geworden. Mit feinnervig flirrender Gravitas erzählt sein neuer Film die Geschichte der Diva, die nicht älter werden will und ihrer Assistentin, die alle Fäden in der Hand hält (und diese nur zu gern ablegen würde).
In seiner Inszenierung erweist er immer wieder der Theaterbühne die Ehre, etwa durch die oft verwendete Schwarzblende, die wie ein Vorhang besonders gefühlsintensive Szenen vornehm beschließt. Oder durch das geduldige Verweilen der Kamera auf der Kulisse. Das kostet Zeit – kostbare Zeit, die Kameramann Yorick Le Saux (Only Lovers Left Alive, A Bigger Splash) mit kostbaren Bildern zu füllen weiß.
Und selbstredend kommt die Wahl seiner Hauptdarstellerinnen bei einem smarten Mann wie Olivier Assayas nicht von ungefähr: Juliette Binoche ist in gewisser Weise Maria Enders (oder umgekehrt), die Rolle wurde für sie persönlich geschrieben.
Der dreißigjährige Assayas schrieb übrigens 1985 auch das Drehbuch für André Téchinés Rendez-Vous, in dem Binoche eine ihrer ersten Hauptrollen spielte und drehte mit ihr 2008 Ende eines Sommers.
(Auch mit Stewart wird ihn mehr als ein Filmprojekt verbinden: Die junge Amerikanerin Maureen in Personal Shopper (2016), die gestresst und grantig durch Paris tingelt und mit dem Geist ihres verstorbenen Bruders Kontakt aufnehmen will, könnte beinahe Valentine sein, die sich irgendwo anders neuerfunden hat. Anm. 2022)
Olivier Assayas ist ein sehr genauer, aber nie wertender Beobachter – als Regisseur und auch als Redakteur für die Cahiers du Cinéma. Christian Fuchs, seinerseits Film- und Popkulturspezialist für Radio FM4, wies in seiner Besprechung auf diese beinah buddhistische Unvoreingenommenheit hin.
Assayas kann mit vielen, durchaus gegensätzlichen Welten etwas anfangen und spannt in Die Wolken von Sils Maria ganz ungeniert Diametralen auf: zwischen Arthouse und Hollywood, Kunst und Kommerz, Büchern und iPads, Chanel und Batman, Barockmusik und Primal Scream, zwischen rauschenden Galaabenden im Blitzlichtgewitter und den sich in gottgleicher Gleichgültigkeit windenden Wolkenschlangen.
Macht und Nebel
Assayas ist auch ein Meister des Ungeklärten, der gekonnt bedeutungsvolle Leerstellen zu setzen vermag. Seine Filme machen klar, weshalb das Fragezeichen einen Punkt enthält. Es sind Stories, denen mitten in der Handlung Figuren abhandenkommen, sich in Luft auflösen und dennoch umso präsenter über der weiteren Handlung zu wachen scheinen.
Zu dieser Geisteshaltung, die dem Geheimnisvollen seinen Raum lässt, passt das Casting von Binoche und Stewart bestens, denn beide sind charismatische Trägerinnen eines Rätsels, beide haben das bestimmte Je-ne-sais-quois. Binoche ist stets nah und doch so fern und auch Kristen Stewart ist trotz ihrer intensiven Gegenwärtigkeit oft emotional unzugänglich, flüchtig und wie in sich gefangen. Ähnlich wie in dem Nebel, der ihre Figur Val in einer als Videoclip montierten Autofahrt schwindlig macht.
Wie die zwei Frauen in Persona (1966) von Bergman (neben Antonionis L’Avventura (1960) und Fassbinders Die bitteren Tränen der Petra von Kant (1972) eine Inspiration für Sils Maria), sind sich Maria und Val vieles zugleich: Schwester, Mutter, Tochter, Herrin, Dienerin, Rivalin und Beschützerin. Jede der beiden hat ihre Gründe und ihre Abgründe.
Ihre Beziehung zueinander springt hin und her, zwischen Vertrautheit und Fremdheit. Und wie immer geht es um Abhängigkeit und Macht – bei Bergman um die Macht des Schweigens, bei Assayas um die Macht des Blickes und der Beobachtungsgabe.
Val sieht für Maria in die Zukunft und übt eine erotische Anziehung auf sie aus. Die Frage, wer von ihnen eigentlich der Boss ist, stellt sich daher immer wieder aufs Neue: Was wäre die eine ohne die andere und wer hat zuerst die Kraft, die andere zu verlassen? Die frustrierte, effiziente Val, die sich nicht gesehen und geschätzt fühlt, aber „ihren“ Star, Maria, mit der Geduld eines Schutzengels zu jenem Punkt bringen muss, ab dem es kein Zurück, sondern nur mehr ein Vorwärts in die Zukunft gibt?
Oder doch die wankelmütig-skeptische Maria, die ahnt, dass sie erst wieder stark und unabhängig sein wird, wenn sie auf sich allein zurückgeworfen sein wird?
Auch wenn es ihr in Momenten schwerfällt, Verbindungen zu lösen, ist Val die eigenständigere von beiden. Maria ist schließlich Schauspielerin und somit abhängig von der Resonanz der Außenwelt. „Was muss ich denn tun, damit du mich bewunderst?“, fragt sie ihre coole Assistentin einmal. Worauf diese sie voll amerikanischer Schonungslosigkeit mit dem Kernproblem Marias (und Helenas) konfrontiert: Sie könne nicht gleichzeitig arriviert sein und die Privilegien der Jugend für sich in Anspruch nehmen.
Insofern ist Die Wolken von Sils Maria ein Film über das Akzeptieren. Sein Thema ist weniger Coming-of-age, als Coming-to-terms.
So resümiert Maria eines Abends ebenso erstaunt wie pikiert: „Aha, ich darf also jung sein, solange ich mir nicht wünsche, jung zu sein.“ (Eigene Übertragung ins Deutsche, da der Synchrontext der deutschsprachigen Fassung an einigen zentralen Stellen des Films leider unpräzise ist. Anm.)
Ziehen wir noch einmal einen Bogen zurück zu Friedrich Nietzsche. Mirella Carbone, Germanistin und Mitarbeiterin im Nietzsche-Haus von Sils Maria, in einem Interview mit dem Deutschlandfunk: „Wenn man versucht, das ewig Werdende und das Widersprüchliche des Lebens in ein System hineinzuzwängen, dann tötet man das Lebendige. Gerade dieses Experimentelle, dieser Versuch, nicht zu einer letzten Position zu kommen, sondern immer wieder die Themen neu auszuleuchten, aus neuen Blickwinkeln anzuschauen, das ist eben das Dekonstruktivistische, das Nietzsche auch heute noch so modern macht.“
Ganz in diesem Sinn erklärt Val Maria ihre Sichtweise von Wilhelm Melchiors Theaterstück: „Du kannst diesen Text wie einen Gegenstand betrachten. Er verändert sich, je nachdem, wo du stehst.“
Womit sie auch den Film, in dem diese Worte fallen, perfekt beschreibt.
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Clouds of Sils Maria (Die Wolken von Sils Maria)