DIE BALLADE VOM SCHIELENDEN HERZ
Räudiges Piratenlachen dröhnt durch den Flur eines Londoner Nobelhotels.
PR-Managerin Jane Rose wirft strenge Blicke über den Rand ihrer eckigen Brille, eine Assistentin lächelt demütig: Mr. Richards habe noch schnell einen anderen Termin. Der Interviewer fühlt sich wie bei einem Vorstellungsgespräch in einer noblen, traditionsreichen Firma; es duftet nach Sandelholz und Orchideen. Und dann, nur 13 Minuten verspätet, naht er: Mr. Rock’N’Roll hat die Suite betreten.
Totenkopf-Ring, Berberschmuck und Handschellen-Armband klackern silbrig durcheinander. Das Gesichtsleder legt sich in fröhliche Falten. Sogar die Irides seiner Augen scheinen mit Eyeliner umrandet. Teures Porzellan blitzt zwischen Lippen, die sich mal zum souveränsten Grinsen der Welt kräuseln, mal zum Affenkuss schürzen. Lippen, von denen bittersüße Balladen geträufelt sind, die zehntausende Joints geraucht, und Anita Pallenberg und Uschi Obermaier geküsst haben.
Seine eine Band ist so essentiell wie Sonne, Mond und Sterne. Mit der anderen, den X-Pensive Winos, hat er gerade sein drittes Soloalbum eingespielt, das großartige und vielseitige Crosseyed Heart.
Gute Laune und Ehrfurcht beherrschen den Raum sobald der Maestro sich am Sofa niederlässt. Frei flottiert der schlohweiße Haarschopf im Fallwind. Keith will mit Keith angesprochen werden, er trägt Faux-Schlangenleder über einem T-Shirt mit der Anweisung, seinen Oberkörper nicht zu röntgen, und lässt die Basiliskenaugen verschmitzt blitzen wie Smaug, der Drache. Ein Pic klickt seine Tschick an. “So, what’ya got for me?!”
Die Stones gehen im Frühjahr auf Südamerika-Tour, ein neues Studioalbum steht in Aussicht, wie kommen wir zur unverhofften Freude eines weiteren Keith-Richards-Soloalbums?
Crosseyed Heart war gar nicht großartig als Album konzipiert. Am Anfang waren es nur ein paar Jams und Skizzen, die ich gemeinsam mit Steve Jordan (Schlagzeuger, Produzent; Anm.) einmal, später zweimal pro Woche, in einem winzigen Studio in Manhattan aufnahm. Irgendwann entwickelte diese Sammlung von Tracks ihr Eigenleben und wollte zu einem gerundeten Ganzen geformt werden. Was angenehm war: niemand hat auf die Platte gewartet; keine quälende Deadline, wie ihr Journalisten sagen pflegt. Nenn es organisch! Das ist zwar auch bloß ein hübsches Wort, aber es beschreibt die Entstehung des Albums ganz gut: Es wuchs aus sich heraus, in unserem Gewächshaus. Aber was dort drin sonst noch so seine Blüten treibt, verrate ich nicht (von Krachhusten durchsiebte Lachsalve; Anm.).
Wie kam es zur Begegnung mit Steve Jordan?
Unsere Freundschaft reicht weit zurück, bis in die mittleren 80er Jahre. Wir spielten schon gemeinsam mit Aretha Franklin und Chuck Berry – also, wenn das keine guten Karriere-Empfehlungen sind, hah! Eigentlich war es Charlie Watts, der mir Steve empfahl, falls ich mal was ohne die Stones machen wollte, was zur damaligen Zeit leider unvermeidbar war (blickt leicht verbittert zu Boden). Steve spielt Drums ohne jeden Schnickschnack, und ich liebe faule Schlagzeuger. Sie lassen mir mehr Raum zum Manövrieren zwischen den Beats.
Viele Einflüsse aus der Musikgeschichte kommen an die Oberfläche der Songs: Blues, Reggae, Rock’N’Roll, Soul und Funk. Die üblichen Grundzutaten in Keiths Küche?
Was einem Musiker in die Ohren geht, kommt bei den Fingern wieder raus, Mann. Dieses Album ist ein Kniefall vor meinen großen Helden – Robert Johnson, Muddy Waters, Gregory Isaacs… Es kommen auch ziemlich viele Cops drauf vor, har har har.
Stimmt, speziell in den Songs Nothing On Me und Robbed Blind. Wie steht es heute mit der Beziehung zur Exekutive?
Die Polizei hat sich schon früh für mich zu interessieren begonnen, selbst als ich noch nicht „geladen“ durch Gegend gelaufen bin. Besonders die Chelsea Police Force hat sich dabei hervor getan, auch auf legal unlautere Weise, aber zum Glück sind die meisten Cops, die mich leidenschaftlich gern hinter Gittern gesehen hätten später selber alle im Knast gelandet. Ich meine, wie viel Lehrgeld wollt ihr noch zahlen, Jungs? (amüsiert sich köstlich, wirft den Kopf in den Nacken, saugt dann wieder konzentriert und zutiefst genüsslich an seiner Zigarette). Heutzutage arbeitet der eine oder andere Polizist auch für mich, klar, besonders wenn ich mich in New York bewege. Aber ich brauche sowieso fast immer Bewachung, selbst wenn ich nur einen Sack Tiefkühlerbsen kaufen gehe.
Was bedeutet der Titel Crosseyed Heart?
Darüber soll sich jeder selbst ein Bild machen. Nur soviel dazu: Man sagt, man sieht nur mit dem Herzen gut, aber was, wenn das Herz nicht gerade aus schauen kann?
Überhaupt steht in den Texten sehr viel zwischen den Zeilen, das ist eigentlich seit You Got the Silver so. Mut zur Lücke?
Ja, und das ist auch gut so. Je vieldeutiger die Texte sind, um so mehr bedeuten sie dem Zuhörer. Viele Songwriter beschreiben die Dinge ganz genau, ich mache lieber nur Andeutungen. Meistens handeln meine Songs einfach von Emotionen und Situationen, die bei uns allen auf Resonanz stoßen. Musik zu machen bedeutet für mich, die Leute zusammenzubringen, sie näher miteinander in Beziehung zu setzen. Hey, das ist doch genau der Grund weshalb du mit anderen zusammen in einer Band spielst! Es geht um Vertrautheit, um Freundschaft. Du vermittelst dem Publikum einen Gefühlszustand und fragst den Zuhörer indirekt: „Hast Du manchmal auch dieses Gefühl?“
Was ist das wichtigste wenn man beginnt, Musik zu machen?
Der Dreh- und Angelpunkt dabei ist, die richtigen Musiker zu treffen; Leute, mit denen du gemeinsam Energien kanalisieren kannst. Die Chemie zwischen den Charakteren innerhalb der Band ist um so vieles wichtiger als alle Solos, die der einzelne spielen kann. Da draußen gibt es Millionen Wohnzimmer-Virtuosen, aber können die sich auch in ein Bandgefüge einbringen? Darum geht’s! Wenn wir jetzt von mir sprechen: Ich hatte verdammtes Glück, und zwar von Anfang an – ich traf Mick und Charlie, und mit so einem Rohmaterial kann am Ende nur Gutes rauskommen.
Gleichzeitig mit der Platte steht ab heute die Dokumentation Keith Richards: Under the Influence von Morgan Neville auf Netflix zur Verfügung. Inwieweit ist dieser Film mit der Entstehung des Albums verzahnt?
Beides ist aus einem Guss und beide Projekte waren nicht als fertigzustellende „Produkte“ gedacht. Jane Rose, meine Managerin seit vielen, vielen Jahren, schickte mir Morgan vorbei, nur um zu sehen, ob wir miteinander abhängen können. Er kam mit einem Stapel LPs und was kann ich sagen… er ist einfach ein Musikliebhaber. Seine Dokumentation Six Feet From Stardom mochte ich sehr und Morgan hat eine sehr unaufdringliche Art. Später filmte er ein paar der Sessions für Crosseyed Heart, etwa das Video zu Trouble, und plötzlich war der Film im Kasten. Ich habe dazu auch wesentlich weniger Make-Up gebraucht als für meine Rolle des Captain Teague in Pirates of the Caribbean, har har har har.
Chuck Berry ist eine zentrale Figur im Film, wie wichtig war er für die Entwicklung des Keith-Richards-Sounds?
Oh, Chuck… ich habe immer das Gefühl gehabt, dass ich dem Kerl so vieles verdanke. Erstens seine Musik, und dann die Tatsache, dass er mich angeturnt hat. Gleichzeitig war er immer der Archetyp dessen was Rock’N’Roll sein sollte: unglaubliche Songs, ein Wahnsinns-Beat, Texte mit ein, zwei witzigen Pointen – nichts wird todernst genommen. Und dann hat sein Sound neben dem Rock eben auch den Roll: diesen magischen Swing, ein Hüpfen und Abheben des Rhythmus, das eigentlich vom Jazz herkommt. Die Leute glauben, Rock’N’Roll ist was modernes, ich sage immer: Er ist aus dem Blues entstanden und so alt wie die Hügel. Jede Generation macht ein bisschen was anderes draus, mal komplett aufpoliert, und manchmal eben dreckiger.
Crosseyed Heart ist am 18. September 2015 auf Virgin/EMI erschienen, die Doku Keith Richards: Under the Influence läuft auf Netflix.
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