DAS FINSTERE HERZ DES AMERICAN DREAM
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1998 brachte Terry Gilliam Fear and Loathing in Las Vegas zum 25. Geburtstag des Klassikers von Hunter S. Thompson auf die Leinwand. Ein Rückblick auf die zeitgeschichtlichen Umstände, die Buch und Film hervorbrachten.
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„Plastic state of mind, a superficial flow,
livin’ in a vacuum close to zero.“
— J.J. Cale Artificial Paradise
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„Meine Zierde, die Waffen – mein Ausruhn, der Kampf.“
—Cervantes Don Quixote
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Wenn der Eröffnungssatz eines Romans die Pforte zu einer Welt darstellt, dann ist “Wir waren irgendwo in der Gegend von Barstow, am Rande der Wüste, als die Drogen zu wirken begannen…” eine der Türen, die weder ein rechtschaffener Vertreteter der Gegenkultur, noch ein Literaturbegeisterter geschlossen lassen sollte.
Da es an beiden Interessensgruppen nicht gerade Mangel leidet, sollte es auch nicht verwundern, dass Fear and Loathing in Las Vegas (dt. Angst und Schrecken in Las Vegas, Anm.) vom Palimpsest eines epochalen Horrortrips und kaleidoskopischen Spaßrezept für böse Buben zu einem Kultbuch reifte, das seit 1998 auch Bestandteil der Modern Library ist. Und sein Autor ist seit seinem selbstinduzierten Abgang im Februar 2005 mehr denn je zu einer Ikone der freiheitsliebenden Alternativszene weltweit avanciert.
Dr. Hunter S. Thompson war seit den späten 60er Jahren eine Art Totem hedonistischen Exzesses und dabei ein eigentlich ziemlich scheuer Typ, der seine persona publica als wilder Mann inszenierte und für den sich Literatur, Musik und Politik zu einer rauschhaften, kosmogenetischen Magie verdichteten.
Sein journalistisches Werk war eine hysterische Achterbahnfahrt durch einen vollkommen außer Rand und Band geratenen Amerikanischen Albtraum: Waffen, Dollars, Whiskey, Kriegsvokabel, geile Autos und gefügige Frauen. Paradoxerweise nahm Thompson all diese Insignien kollektiver, maskuliner Alltagsmythen für sich selbst in Anspruch als gäbe es kein morgen.
Den einen galt er als altgewordener Acidhead, der 1970 mit einem „Freak Power Ticket“ beinahe zum Sheriff von Aspen und Pitkin County gewählt worden war, der in seinem befestigten Anwesen Owl Farm in Woody Creek Schieß- und Sprengübungen veranstaltete, die Auffahrt zu seinem Grundstück mit Ketchup-besudelten Sexpuppen markierte und sich nur allzu leidenschaftlich als Nixon-Hasser und Antirepublikaner deklarierte.
Den anderen galt er als gut geerdeter Mentor auf den irrlichternden Pfaden durch seltsame Zeiten („When the going gets weird, the weird turn pro!“ war sein Credo), als aberwitziger Showman und Fachmann für professionell gestaltete Good Times.
Vor allem anderen aber war Hunter S. Thompson ein brillanter Stilist, der oft ganze Passagen seiner Vorbilder Hemingway und Conrad, Faulkner und Fitzgerald abtippte, um ein Gespür für den meisterhaften Wortfluss der großen Autoren zu entwickeln. Thompson selbst brachte ein neues Lehrfach ins Curriculum des New Journalism von Truman Capote, Norman Mailer oder Tom Wolfe: den Gonzo Journalismus, bei dem der Autor mit „der Präzision eines Endoskops, das in einen eiternden Tumor eindringt“ schreiben sollte. Dabei stand der Ich-Erzähler, oft Thompsons alter ego Raoul Duke, im Zentrum des Geschehens.
In dieser schnellen, scharfen, und zutiefst subjektiven Schreibe entstanden Hell’s Angels, The Kentucky Derby is Decadent and Depraved, The Great Shark Hunt: Gonzo Papers Vol.1 oder Fear and Loathing on the Campaign Trail ’72, also all jene Bücher, die Thompson den Weg ebneten, auf dem er mit Kriegsgebrüll und Zigarettenhalter im Mundwinkel durch die Dekaden in die ewigen Jagdgründe brauste.
Trotz all diesem martialischen Macho-Gedöns war Thompson privat ein Südstaaten-Gentleman, seinen Kampfgefährten und -gefährtinnen ein loyaler Freund und ein regelmäßiger und origineller Briefeschreiber, der im Wissen um den zukünftigen literarischen Wert seiner etwa 20.000 Aussendungen stets Durchschlagpapier verwendete. Die beiden Kompendien seiner Korrespondenzen, The Proud Highway und Fear and Loathing in America, bei Bloomsbury erschienen, lesen sich wie die genetische Kodierung eines wachen, extrem präzise denkenden und, vor allem, lebenshungrigen Exzentrikers.
Ganz im Stil militärischer Ehrungen prangen am Schluss beider Briefsammlungen Rolls of Honor mit den Namen seiner Mitstreiter für ein klügeres, weltoffenes Amerika: Joan Baez, Grace Slick, Douglas Brinkley, William S. Burroughs, P.J. O’Rourke, Jann Wenner, Don Johnson, Warren Zevon, Bonnie Raitt, Muhammad Ali, Jimmy Carter, Bob Dylan, Bobby Kennedy, George McGovern, George Plimpton u.v.m.
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Sein Meisterstück Fear and Loathing in Las Vegas war, wie viele Outputs des New Journalism, für eine Verfilmung wie geschaffen. Zudem hatte sich Thompson beim Niederschreiben seiner Vegas-Reportage an einem vorbedacht cinematischen Stil erprobt, der schon bei der Lektüre markige Voice-overs, delirierende Flashbacks, schrille Special Effects und hochdynamische Sequenzen evozierte.
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Wilde Reise ins Herz der Finsternis
Der Hintergrund von Fear and Loathing in Las Vegas ist rasch erzählt: Im März und April 1971 unternahm Thompson (a.k.a. Raoul Duke) gemeinsam mit dem Chicano-Aktivisten Oscar Zeta Acosta (im Buch der schwer vom Wahnsinn gestreifte Rechtsanwalt Dr. Gonzo) von Los Angeles aus zwei Reisen nach Las Vegas.
Die erste Fahrt war für beide eine Gelegenheit, sich unantastbar von den kalifornischen Behörden und unbeachtet von der Presse über das weitere Vorgehen im Fall der Ermordung des Fernseh-Journalisten Rubén Salazar zu beraten. Gleichzeitig konnte Thompson auch den finanziell dringend notwendigen Auftrag wahrnehmen, über das Mint 400, ein Motorradrennen in der Wüste, für Sports Illustrated zu berichten.
Ein zweiter Abstecher führte die beiden zum Kongress der Bezirksanwälte über Drogen und narkotische Substanzen. Dem Anlass entsprechend, statteten die beiden Spießgesellen und übriggebliebenen Exponenten der Counter Culture ein Chevrolet Cabrio („The Red Shark“) mit einem damals hochmodernen Kassettenrekorder für die richtige musikalische Untermalung (Big Brother and the Holding Company, Jefferson Airplane, The Yardbirds, Booker T. & the M.G.’s) aus, sowie einer von Budweiser bis Meskalin alles umfassenden Fahrtapotheke.
Was als Überlandfahrt zweier fröhlicher Freaks beginnt, explodiert bald in einer Kettenreaktion übelster Ausschreitungen gegen Gesetz, Ordnung und guten Geschmack, die in der gründlichsten Hotelzimmerverwüstung seit Ludwig van Beethoven mündet.
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Die Geschichte wurde vom kongenialen englischen Zeichner Ralph Steadman, mit dem Thompson bereits zuvor für das Magazin Scanlan’s Monthly zusammengearbeitet hatte, illustriert und vom politisch angehauchten Musikmagazin Rolling Stone im November ‘71 unter dem Titel Fear and Loathing in Las Vegas: A Savage Journey to the Heart of the American Dream in Serie herausgebracht. Damit wurde ein vorauseilender Mythos geschaffen, an dem der polytoxische Schriftsteller mehr und mehr persönlich zerbröseln sollte. Die im multiplen Betäubungszustand und im selben Stil verfasste Auftragsarbeit für das nüchterne Sportmagazin wurde übrigens, laut Thompson, „auf aggressivste Weise“ zurückgewiesen.
Fear and Loathing in Las Vegas stieß, wie erhofft, auf reges Interesse bei Drehbuchautoren und Regisseuren. Martin Scorsese wollte Mitte der 1970er Jahre den Stoff mit Aykroyd und Belushi auf die Leinwand bringen, dann war eine zeitlang Jack Nicholson für die Hauptrolle im Gespräch. Thompsons Shotgun-Golfpartner Bill Murray spielte sie dann schließlich 1980, und zwar in einem reichlich daneben gegangenen Bio-Pic mit dem Titel Where the Buffalo Roam. In den gierigen, schultergepolsterten 80er Jahren wurden die Ideale der Hippies und Peaceniks dann endgültig als uncool und geschäftsschädigend angesehen. „Drogenfilme“ waren im Zuge von Nancy Reagans „Just Say No!“-Bewegung so gut wie unfinanzierbar. Das Buch harrte weiterhin einer würdigen Verfilmung.
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Die wilden Neunziger
Erst 1996 sprach der junge Regisseur Alex Cox mit einem Script bei Thompson in Woody Creek vor und überwarf sich prompt mit ihm, weil er die zentrale Textpassage des Werkes als Cartoon-Animation darstellen wollte und an jenem Abend weder Lust auf eine Football-Übertragung, noch auf des guten Doktors selbstgebratene Würstel hatte. Thompsons Haus-und Hofdokumentarist Wayne Ewing bannte sogar die Szenen auf Film, in denen der wütende Outlaw-Autor den verängstigten Vegetarier Cox und seine Frau aus dem Haus wirft.
Dennoch schien mit dem bizarren Freak-Jahrzehnt der 1990er noch einmal die Möglichkeit gekommen, unliebsame soziopolitische Wahrheiten anzusprechen und in Grunge-Musik und Millenniums-Parties eine Art desperate Erlösung vom Kauf- und Arbeitsrausch der 80er Jahre zu finden. Als wäre angesichts des anstehenden Jahrtausendwechsels ein zweiter Frühling für die Grundwerte der Menschheit angebrochen. Es sollte auch ein zweiter Frühling für Thompsons Lebenswerk werden.
Als Regisseur wurde schließlich Terry Gilliam (Monty Python’s Flying Circus, Time Bandits, Brazil, Twelve Monkeys, u.a.) hinzugezogen, der mit seiner ähnlichen Sichtweise auf die Absurdität der Welt schnell mit Thompson einen freundlich-professionellen Rapport entwickelte.
Johnny Depp, der wie der Autor vom „dunklen, blutigen Boden Kentuckys“ stammt, hatte schon zu Beginn des Projektes auf Wunsch Thompsons als Hauptdarsteller festgestanden. Für die Rolle des Dr. Gonzo konnte der genialische puertorikanische Verwandlungskünstler Benicio del Toro verpflichtet werden und Thompsons Co-Konspirateurin und Ex-Freundin Laila Nabulsi unterwarf sich als Produzentin und treibende Kraft einer persönlichen Mission.
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Gilliam verfilmte das Kultbuch gleichsam als Geschenk an Thompson und seine Leserschaft, und zwar so konsequent, dass es Zusehern, die das Quellmaterial nicht kennen, reichlich schwer fallen dürfte, der Handlung einen tieferen Sinn abzuringen.
Set- und Produktionsdesign sind, wie von Gilliam gewohnt, vom feinsten und den unverwechselbar schrägen Illustrationen von Ralph Steadman mit ihrer Drip-Painting-Ästhetik wird in einigen Einstellungen Rechnung getragen. Nicola Pecorinis Kameraarbeit bannte das wechselseitige Ineinanderfließen der künstlichen Paradiese in der nächtlichen Neonhölle der Casinos und in den arg strapazierten Köpfen der Protagonisten mit viel Filter- und Weitwinkeleinsatz auf Zelluloid.
Sämtliche Figuren des Ensembles driften als grelle und nachtschattige Cameos an den Hauptdarstellern vorbei, um sich dann im hyperaktiven Dahinwabern der Handlung zu verflüchtigen: Irgendwo taucht da Cameron Diaz im Lift auf, Ellen Barkin gibt eine Diner-Bedienung mit porösem Nervenkostüm und eine kindlich-verpeilte Christina Ricci mit Barbra-Streisand-Faible erkennt man erst, wenn man sich zu wundern beginnt, wie es Harry Dean Stanton aus Paris, Texas hierher verweht hat. Chili-Peppers-Bassgott Flea darf Depp Film-Acid vom Holzfällerhemd schlecken, Benicio del Toro gibt in einer Szene mit der Substanz Adrenochrom den grausigsten Krampus seit Rosemary’s Baby und Hunter S. Thompson sich einen sonderbaren, aus der Zeit gefallenen Moment lang die Ehre.
Und Johnny Depp, der mit der Darstellung des Raoul Duke die denkbar entfernteste schauspielerische Antipode zum marantisch passiven Buster-Keaton-Nachfahren in Jim Jarmuschs Dead Man (1995) aufsuchte, gelang eine überzeugende Osmose mit Thompsons eigentümlichem Habitus. Sein Porträt des befreundeten Autors ist das eines Nietzscheschen Tieres mit dem guten Gewissen.
Die zentrale Gestalt des Films aber ist das Phänomen Las Vegas – vielleicht die amerikanischste aller amerikanischen Städte: ein synthetischer Moloch, der in den LSD-geweiteten Pupillen von Duke/Thompson zu einem monströsen Pandämonium der Gier und der Verkommenheit anschwillt.
Obwohl Halluzinogene eine Rolle spielen, sollte Fear and Loathing in Las Vegas nicht primär als „Drogenfilm“ gesehen werden, sondern als elegischer Abgesang auf einen Moment in der Geschichte, der für eine junge Generation von Amerikanern ein Aufwallen friedlicher, gemeinschaftlicher Energien verhieß. Ein Moment, der jenen, welche die Gunst der Zeit zu erkennen glaubten, wie der „Ritt auf dem Kamm einer hohen und wunderschönen Welle“ (Thompson) erschienen sein musste.
Spätestens 1971 war diese Welle gebrochen und unwiederbringlich zurückgerollt. Seither gehen bekanntlich die Meinungen über den Flutstand der Historie in alle Richtungen auseinander. Doch Fear and Loathing in Las Vegas ist, so Hunter S. Thompson, eine Geschichte über die Hoffnung.
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BONUS
Weiterführende Links zu Autor, Buch und Film:
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Hunter in Hollywood
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Interview mit Johnny Depp
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Die Hochwassermarke
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25 Zitate aus dem Film
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Laila Nabulsi über den Film
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Buy the Ticket, Take the Ride: Doku über Hunter S. Thompson
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Artikel über Thompsons Sheriff-Kampagne von 1970 in The Atlantic
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Journalistische Texte von Hunter S. Thompson
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