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::: TRE CIME :::

Eine Umrundung der Drei Zinnen.

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Ich nehme noch einen heißen Schluck Ingwertee, werfe ein paar Kekse ein und gehe vom Parkplatz des Rifugio Auronzo an der Südseite der Drei Zinnen los, in Richtung Westen.

Nach hundert Metern überquere ich eine Schuttreise und genieße die stille Energie der Berge. Es ist ein wechselhafter Herbsttag Anfang Oktober und die Lärchen- und Föhrenwälder im Tal sind gelb und orange wie die gemalte Kulisse in einem Film von Wes Anderson.

Feiner Schnürlregen geht in plötzlichen Sonnenschein über, die feuchte Luft beginnt zu glitzern. Nebelfetzen schweben geschwind die Hänge herauf und verdampfen zwischen den Terracotta-farbenen Buckeln der Drei-Zinnen-Südseite.

Die Stille wird auf einmal von lauter, eigentlich ziemlich guter Musik durchbrochen. Indische Groovemusik mit einer weiblichen Stimme. Als ich um eine Kurve biege, erkenne ich die Quelle der Mette: Ein etwa zehnköpfiges indisches Filmteam filmt den Helden, der zum Wummern eines Ghetto Blasters über die Schotterhalden herablaufen soll, aber sich dabei recht schwer tut, elegant zu erscheinen. Knapp schiebe ich mich am Team vorbei und setze meinen leicht ansteigenden Weg fort, vom immer ferner klingenden Bollywoodsong begleitet.

Eigentlich ist mein Plan, die Westliche Zinne so eng wie möglich zu umrunden, um rascher auf die Nordseite der Tre Cime zu gelangen. Deshalb folge ich dem Pfad entlang der Südseite zum Torre Lavaredo, in der Hoffnung, von dort auch wieder einen Abstieg nach Norden zu finden.

Höher und höher geht es über unwegsames Gelände, auf dem Rundweg unter mir erkenne ich zwei Wanderer, fern wie Pilger auf einem alten Gemälde. Eine riesige braune Wiesenfläche ist von unzähligen filigranen Wasseradern überzogen, die im Sonnenschein golden zu glänzen beginnen. Dann stehe ich auf einmal an.

Ich kann zwar schon zur Nordseite sehen, sogar das Rifugio Locatelli und die scharf ins kalte Lichtblau des Himmels gezeichneten Hohen Tauern dahinter, doch vor mir bricht steil und zerklüftet ein ungangbarer Hang mit bizarren Türmen und Gendarmen zu den grünen Almböden ab. Die Stille hier heroben ist perfekt und wird nur durch mein vor Anstrengung wild im Hals pochendes Herz getaktet.

Ein Chaos aus gestockten Wolkenfetzen, die unbeweglich in den nass-schwarzen Berghängen kleben; die Wetterküche über dem kargen Hochplateau der Grava Longa, dahinter das Schönwetterfenster mit bleichem Herbsthimmel in Richtung Norden, und über allem, zum Greifen nah, ein Regenbogen. Ein paar Minuten lang fühle ich mich komplett und eins mit der Natur. Auf angenehmste Art bin ich gar nicht vorhanden.

Über die Stellungsmauern aus dem Ersten Weltkrieg und den ohnedies schon recht steilen Weg, den ich gerade gekommen bin, muss ich nun den Rückzug antreten und einige, allerdings harmlose, Kletterstellen wieder retour steigen. Der Dolomitfels ist hellgrau, kalt und brüchig. Beim Abstieg ins Kullern geratene Felswürfel kommen nach wenigen Metern mit kehligem Geklacker wieder zur Ruhe.

Dann werde ich gänzlich von lichtdurchfluteten Wolkenschwaden eingehüllt, und kurz von panischer Orientierungslosigkeit erfüllt. Doch nach nur einer knappen Minute lösen sich die Schwaden wieder auf.

Schließlich erreiche ich den markierten Rundweg. Eine scharfe Rechtskurve führt zum Trampelpfad durch die Geröllfelder direkt unterhalb der Tre Cime. Diesen schlage ich ein und erreiche nach 300 Metern die Nordwand der Westlichen Zinne. Wie ihre beiden Schwestern ist auch sie in Schleier gehüllt, nur alle paar Minuten gibt der Nebel den Gipfel frei.

Die Grate und Kanten scheinen weichgezeichnet vom eisigen Dunst. Neonblau dringen fahle Lichtstrahlen durch die tiefen Scharten zwischen den Zinnen.

Lange stehe ich unter dem ausgehöhlten Wandteil, der als ‘Baur-Dach’ bekannt ist; der gelbe Fels ist horizontal schraffiert, mit der grafischen Präzision eines Paul Flora. Über dem Dach sieht die Wand aus, als wäre sie mit Teer übergossen. Ähnlich wie der rechte Teil der Großen Zinne, deren gestufte horizontale Linien sich nach oben in den Wolkengespinsten verlieren.

Unten auf den Weideflächen spiegelt sich ein Stückchen blauer Himmel in einem der drei Laghi del Piani. Still mache ich den ikonischen Wänden meine Aufwartung und atme die Atmosphäre in tiefen Zügen ein. Dann setze ich meinen Weg fort.

Auf dem, teils im Laufschritt über Schotter und Felsblöcke zurückgelegten, Pfad begegne ich niemandem, bin ganz allein mit der verlassenen Schönheit der drei schmucken Berggestalten.

Schließlich gelange ich an den spärlich begrasten, gelbbraunen Abhang, der östlich der Kleinen Zinne zu einer Weggabelung führt. Langsam wird es immer dunkler, die Sonne ist im Sinkflug und zwischen den Baseliskenköpfen gleich gestalteten Felsnadeln der Kleinen Zinne und des Preußturms schmiegen sich wattige, weiche Schwaden. Wie eine Haube senkt sich der Nebel über die Landschaft und für vielleicht zehn Sekunden, wird alles rundherum – die gelbschwarzen Wände der Zinnen, der beige Boden, und ich selbst – in rosarotes Licht getaucht.

Doch dieses kleine Wunder ist nur von begrenzter Dauer und bald beginnt es wieder leise und gleichmäßig zu nieseln. Über rutschige, schlammige Pfade mache ich mich auf den Weg zur Auronzo-Hütte, wo nun auch die indische Musik verstummt ist, und vollende meine Umrundung der Drei Zinnen.

Der Tee in meiner Thermoskanne ist noch heiß.

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