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::: Heinrich Harrer :::

ZU HAUSE HINTERM HORIZONT

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Harrer am Tiemberg in Kitzbühel_1960
Heinrich Harrer (1912 – 2006) in den sechziger Jahren, in Münichau bei Kitzbühel

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Es muss Anfang der Achtziger Jahre gewesen sein. Ich war damals ein Knirps von etwa acht Jahren, da hatte ich eine prägende Begegnung mit einem älteren Mann von wildem Äußeren und launischem Temperament. Von seiner Lebensgeschichte zwischen Licht und Schatten erfuhr ich erst später. Sein Name: Heinrich Harrer.

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Professor Heinrich Harrer, Alpinist, Forscher und Weltreisender, lebte seit seiner Rückkehr aus Asien 1952 in Kitzbühel. In dem Tiroler Bergstädtchen verfasste er auch seinen Weltbestseller Sieben Jahre in Tibet. 1959 half er, ebenfalls in Kitzbühel, Thubten Jigme Norbu, dem ältesten Bruder des Dalai Lama, seine Memoiren (Tibet, verlorene Heimat; Ullstein Verlag, 1960) zu Papier zu bringen.

Harrer (l.) und Norbu (r.) 1959, während dessen mehrmonatigen Aufenthaltes in Kitzbühel. Im Hintergrund die Südberge
© Archiv H. Harrer

Wenn nicht auf Reisen, wohnte Harrer mit seiner dritten Frau Carina in einem mit Panoramascheiben versehenen Haus an den Ausläufern des Bichlach-Hügelzuges, gleich oberhalb von Schloss Münichau. Nach dem Verkauf dieses Hauses und dem Umzug nach Liechtenstein 1980, mietete Harrer im Nachbarhaus des Büros meines Vaters im nahen Dorf Reith eine Ferienwohnung mit Parkplatz in der gemeinsamen Tiefgarage.

Eines Nachmittags reversierte Harrer seinen Range Rover aus seinem Garagenplatz heraus. Offenbar mit Verve und ohne sich lange umzusehen, denn er fuhr mit einem weithin hörbaren Krachen in einen Stapel Kartons, die einen Teil der Kollektion meines Vaters enthielten, der damals noch als Importeur von Sportbekleidung arbeitete. Dabei kamen wohl einige Kleidungsstücke unter die Räder und dadurch zu Schaden.

Als lautstarker Kläger in dieser Angelegenheit ging jedoch nicht mein gutmütiger Vater hervor, sondern Harrer, der sich beschwerte, dass die Kartons im Weg gestanden seien (obwohl sie nur an einem der beiden Standplätze meines Vaters übereinander getürmt waren) und er nun zu spät zu einer Golfpartie komme.

Jedenfalls machte der verärgerte Harrer einen tiefen, wenn nicht sogar erschütternden Eindruck auf mich. Meine Neugier war durch das Reifenquietschen, das rote Blinken der Bremslichter und erhobene Stimmen geweckt worden. Während sich seine Frau und meine Mutter noch recht hitzig einschenkten, entfernte sich Harrer vom Ort des Zwists und traf mit mir, unerwartet für uns beide, vor der Tiefgaragenausfahrt zusammen.

Breit gebaut stand Harrer vor mir, mit rosa schimmernder Glatze, die von einem wehenden Kranz schlohweißen Haares umflort und von asiatischen Sonnenbränden wie säuregezeichnet war. Seine Erscheinung erinnerte mich an einen Uhu nach dem Waldbrand. Gleichzeitig war da eine strahlende, energische Erfülltheit und ein willensstarkes Selbstbewusstsein, das mir bis dahin unbekannt war: Ein Mann, der in seinem eigenen Feuer zu stehen schien, und dabei nur oberflächliche Verbrennungen davon trug – eine Art Niki Lauda des Höhenbergsteigens.

Ein milde gestimmter Heinrich Harrer im Alter.
Foto: OÖN

Himmelblaue Augen, deren strenger, kristalliner Blick noch durch ein herabhängendes, rot entzündetes Lid verschärft wurde, verliehen ihm die Aura einer zerstörerischen, zürnenden Gottheit. Im selben Moment aber wurde seine Ausstrahlung weicher, das Feuer seiner entflammten Wut fahler. Heute habe ich den Verdacht, dass es ihm einfach zu blöd war, in Gegenwart eines Kindes so kleinlich und so zänkisch zu sein.

Mein Vater, mit einer jugendlichen Begeisterung für Forscher und Abenteurer gesegnet, fand ganz spontan: Mit den beschädigten Overalls könne es so weit nicht her sein, dass er sich mit dem alten Herrn einen Streit anfangen wollte. Als Versöhnungsangebot schenkte er ihm daher ein paar elegante, selbstverständlich unbeschädigte Hemden. Daraufhin zog Carina Harrer ein Schnütchen und meinte: „Das ist zwar recht lieb von Ihnen, aber mein Mann wählt seine Garderobe stets selbst aus.“

Da Harrer jedoch diese Gelegenheit der Entschädigung (wofür eigentlich?) nicht ungenutzt verfliegen lassen wollte, kam er am nächsten Tag mit seiner Enkeltochter ins Lager meines Vaters, um sich, an Stelle der verschmähten Hemden, mehrere Paare von den teuersten Skihandschuhen der Winterkollektion auszusuchen, oder – wie es mein Vater ausdrückte – zu erschnorren.

Nichts desto trotz habe ich heute noch die gebundene Ausgabe von Sieben Jahre in Tibet in meiner Bibliothek, mit einer tibetischen Widmung an mich, die meine Mutter von einer Lesung einige Zeit nach dem Zwischenfall mit den Kartons mitbrachte – offenbar hatten die Erwachsenen ihr Kriegsbeil begraben.

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Wenn ich heute dank YouTube und der Österreichischen Mediathek Bild- und Tondokumente über diesen zweifellos einzigartigen Mann analysiere, habe ich den Eindruck, dass Heinrich Harrer möglicherweise an einem Gefühl sozialer Ausgegrenztheit zu nagen hatte. Zusätzlich machte ihn eine zumindest leicht egomanische Disposition zu einem Solitär und zu einem Überflieger, der sich mit der größten Selbstverständlichkeit über Regeln und Normen hinwegzusetzen wusste.

Harrer wollte zeit seines Lebens, außer sich selbst, niemandem Rechenschaft schuldig sein. Er wollte sowohl in Österreich als auch in Tibet zur Elite gehören und nicht nur als Bergsteiger aufsteigen. Sogar Carina schreibt in ihrer (klugen und überraschend humorvollen) Autobiografie, dass der junge Heini davon besessen gewesen war, „es im Leben zu etwas zu bringen“. Noch einen anderen Wesenszug ihres Mannes beschreibt Carina: Das deutliche Desinteresse an den innersten Gefühlsregungen anderer Menschen – und auch an seinen eigenen. Es mangle ihm, bei aller Liebe und Bewunderung, an einem: Menschenkenntnis.

Womöglich hat seine exzeptionalistische Selbstwahrnehmung mit einem konkreten Erlebnis zu tun, mit einer unterschwelligen Angst vor Armut, Mangel an Anerkennung und Bedeutungslosigkeit. In seiner Autobiografie erwähnt er, dass seine Tante ihm als Kind einen feinen Anzug aus hellgrünem Samt genäht hatte, der in Kombination mit seinem rotblonden Haarschopf für großes und gemeines Gelächter im Kindergarten sorgte. In solchen Situationen ist wohl kein Gedanke naheliegender als „Na wartet, euch werd ich es eines Tages zeigen!“ Und so zeigte es Harrer allen.

Das oft gegenwärtige seidene Halstuch, sein Burgtheater-Deutsch trotz Kärntner Bergbauern-Herkunft; sein fortwährendes, leicht gönnerhaftes „Schau’n Sie!“ und „Nicht wahr?“; sein Ansuchen um eine Hofratspension bei der österreichischen Bundesregierung und die hörbare Gekränktheit in einem Radiointerview, als diesem Antrag nicht stattgegeben wurde; der Verkauf seiner Asiatica-Sammlung an das Völkerkundemuseum der Universität Zürich um damals 8 Mio. Schilling (umgerechnet etwa 580 000 Euro), da man ihm in Österreich nur ein schmähliches Zwanzigstel davon geboten hatte, ist noch nachvollziehbar; die gerissene Weise wie er in den Besitz des einen oder anderen kultischen Gegenstandes aus dieser Sammlung kam, eher weniger. All das sagt wohl so einiges über einen sozial aerodynamischen Mann, der es sich zu richten weiß. Auf Tibetisch nennt man einen nach oben hin mobilen Charakter Tscheng-Se – einer, der „hell im Auge“ des Herrschers steht.

Beste Aussichten: Harrer mit Butterbrot von der Mama, 1938 im „Schwalbennest“ der Eiger Nordwand
© F. Kasparek

Auch ist mir bewusst, dass Heinrich Harrer zu Beginn seiner bergsteigerischen Karriere „hell im Auge“ eines ganz anderen Herrschers stand: Bereits seit 1933 war er im Heimatschutz und Mitglied bei der damals noch illegalen SA im Untergrund, wofür der ORF-Redakteur Gerald Lehner 1996 in amerikanischen Archiven Nachweise fand.

Harrer bestritt dies jedoch mit dem Argument, er habe „aus Angeberei“ seine Mitgliedschaft in Hitlers Schlägertruppen angeführt und das Eintrittsdatum später von den NS-Beamten rückdatieren lassen. Tatsächlich sei er nie Mitglied der SA gewesen. 1937 wurde Harrer jedenfalls Trainer der Österreichischen Damen-Ski-Nationalmannschaft. Nach dem „Anschluss“ 1938 erhielt er von den Nazis den Auftrag, die steirische SS als Schilehrer zu betreuen.

Harrer sagte zu und erhielt eine Scharführer-Uniform mit zwei Sternen, die er jedoch nur zu einer Gelegenheit trug – als er im selben Jahr seine erste Frau Lotte, die Tochter des bekannten Polarforschers Alfred Wegener heiratete, mit der er einen Sohn (Peter, *1939) haben sollte. Trainingsstunde musste er auch keine einzige abhalten, da er sich erfolgreich um die Teilnahme an der Nanga-Parbat-Expedition 1939 bemüht hatte und deren Vorbereitungen bereits im Herbst 1938 begannen.

Im Frühjahr desselben Jahres hatte Harrer in Graz seine Lehramtsprüfung abgelegt und bewarb sich um einen Posten an einem Realgymnasium. Voraussetzung dafür war der Eintritt in den NS-Lehrerbund und somit in die NSDAP. Er stellte einen Antrag auf Mitgliedschaft, das Parteibuch erhielt er wegen seiner Abreise nach Asien im Frühjahr 1939 nicht mehr überreicht. Dafür aber 1952, als er wieder in seine Heimat zurückkehrte, und zwar von den alliierten Behörden, die ihm nach ausgiebiger Befragung den entlastenden „Persilschein“ ausstellten.

Bei der politischen Person Heinrich Harrer kommt präzise ins Treffen, was der deutsche Schriftsteller Carl Zuckmayer in seinem erst 2002 veröffentlichten Geheimreport für den OSS (Vorläufer der CIA) über den NS-kompatiblen Schauspieler Gustaf Gründgens (vergleiche Klaus Manns Mephisto) schrieb. Dabei braucht man bloß „künstlerisch“ mit „alpinistisch“ und „Spielernatur“ mit „Abenteurernatur“ zu ersetzen:
„Aus künstlerisch sublimierter Spielernatur ist seine Karriere bei den Nazis zu erklären. Lust am Gewagten, am Jonglieren und der glänzenden Equilibristik, am Sprung auf einen schwindelhaften Gipfel, an Wurf und Gewinn, an Repräsentation, an Macht und Gefahr. (…) Er läuft mit unsichtbaren Schlittschuhen an den Füßen am liebsten auf blankem Eis. Auf einem weniger glatten und ungefährlichen Boden würde er vermutlich straucheln.“

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„Gleiten auf Messern“: Heinrich Harrer, 1947, beim Eislaufen, das er unter jungen Tibetern populär machte. Im Hintergrund der Tshagpori mit der Medizinschule
Foto: Lobsang Samten; Sammlung H.Harrer / VMZ

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Harrer bezeichnete seine opportunistische Haltung gegenüber dem Hitler-Regime im reiferen Alter wörtlich als „barbarischen Irrtum“ und sagte in einer Ausgabe der ORF-Sendung Land der Berge: „Ich war ein armer Schlucker aus Kärnten. Um in den Himalaya zu gehen, hätte ich meinetwegen mit dem Teufel einen Kontrakt getroffen und mit meinem Blut unterschrieben“.

Ein beachtlicher Gipfelerfolg wurde letztendlich sein Ticket für die Berge des Fernen Ostens. Ob er jedoch als Teil des Erstdurchsteiger-Teams der Eiger Nordwand im Juli 1938 (gemeinsam mit Anderl Heckmair, Wiggerl Vörg und Fritz Kasparek) tatsächlich am Gipfel den Hakenkreuz-Wimpel hisste, oder ob dieser nur deshalb im Rucksack blieb, weil Kälte, Nacht und Höhensturm das Bergsteiger-Quartett zum raschen Abstieg zwangen – das wird wohl immer ungewiss bleiben.

Gewiss ist, dass die „Bezwinger der Mordwand“ von Adolf Hitler empfangen und geehrt wurden (Zitat Hitler: „Kinder, Kinder, was habt ihr geleistet!“). Ein Gruppenfoto, gebündelte auratische Kälte ausstrahlend, belegt diese Begegnung. Allerdings wirkt darauf gerade Harrer unangenehm berührt und betreten.

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„Um in den Himalaya zu gehen, hätte ich mit dem Teufel einen Kontrakt getroffen.“

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Unter der Expeditionsleitung meines Urgroßonkels Peter Aufschnaiter aus Kitzbühel, damals Geschäftsführer der Deutschen Himalaja Stiftung, brach Harrer im April 1939 zu einer Kundschaftsfahrt an die Diamir-Flanke des Nanga Parbat (8127 m) in Kaschmir auf. Dass Harrer (gemeinsam mit zwei weiteren, ideologisch „verlässlichen“ Bergsteigern) auf höchsten politischen Umwegen ins Team geschleust wurde, verzieh ihm der geradlinige Aufschnaiter nicht so schnell.
Ursprünglich waren Harrers Eiger-Gefährten Heckmair und Vörg vorgesehen gewesen, doch die beiden hatten sich als sehr wenig begeisterte Nationalsozialisten erwiesen. Aber was konnte Aufschnaiter schon dagegen unternehmen, wenn Reichsführer SS Heinrich Himmler ein Bewunderer des sich stets in bester Laune Liebkind machenden und höchst strebsamen Heinrich Harrer war.

Peter Aufschnaiter (1899 – 1973): Bergsteiger, Forscher, Entwicklungshelfer, Sprachengenie, Himalaya-Experte und Einzelgänger
© H. Harrer

Einmal in der Abgeschiedenheit Hochasiens angekommen, waren die Bergsteiger dem Blick des in Europa rasend schnell mächtig gewordenen Nationalsozialismus entzogen. Doch sie wurden dort auch vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überrascht.

Da sich die Expeditionsmitglieder auf Britisch-Indischem Boden befanden, wurden sie vor ihrer Rückreise in Karatschi von den Briten verhaftet und in Nordindien interniert.

Nach fünfjähriger Gefangenschaft und mehreren Ausbruchsversuchen, die übrigens von den Engländern, ihrer Gewagtheit wegen, Respekt einforderten, gelang zunächst zu siebt die Flucht durch Täler, Dschungel, Schluchten und über etwa dreißig Pässe des Himalaya an die Grenze von West-Tibet. Nach und nach trennten sich die Wege der entflohenen Häftlinge. Bis auf die von Harrer und Aufschnaiter.

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Tibetische Berglandschaft nahe Purang                                                                                        © himalayan soulscapes

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Dies ist der Beginn der Geschichte von Sieben Jahre in Tibet, die sich auf dem Klappentext so unwiderstehlich liest und in ihrer Archaik einem Märchen aus Tausendundeine Nacht gleicht: Zwei Männer fliehen aus der Gefangenschaft, überqueren das höchste Gebirge der Erde und werden in einem verborgenen Reich Berater des Königs. Eingegangen ist dieses wahre Märchen in das Unterbewusstsein einer ganzen (Nachkriegs-)generation.

Ganz und gar nicht märchenhaft dürfte die alltägliche Realität der beinahe zweijährigen, mehr als 2000 Kilometer langen Wanderung des dynamischen, leutseligen Harrer und des um dreizehn Jahre älteren, wortkargen und emotional verschlossenen Aufschnaiter gewesen sein. Entschädigt wurden ihre Strapazen durch die Schönheit der weiten Tibetischen Landschaft und des Himalaya-Hauptkammes im Süden.

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„Erst wenn ich die Zivilisation hinter mir lasse, fühle ich mich sicher.“

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Die beiden höchst unterschiedlichen Österreicher, begleitet von einem kleinen weißen Terrier, biwakierten monatelang im Freien bei bis zu -40°C, dicht aneinander geschmiegt oder vielmehr übereinandergestapelt, in der immensen Einöde des Tschangthang. Sie überstanden Angriffe von Räubern und Wölfen, erlitten Erfrierungen an Händen und Füßen, bittere Hungersnot und depressive Hoffnungslosigkeit. Umso seltsamer dürfte sich diese erzwungene Nähe gestaltet haben, als sie stets per Sie miteinander sprachen – wenn sie überhaupt miteinander sprachen; das Du-Wort bot Peter Aufschnaiter dem „Herrn Harrer“ erst in den 1960ern nach einer Bergtour im Wilden Kaiser an. Wirkliche Freunde waren sie nie.

Über den bärbeißigen Bayern Anderl Heckmair, der bis ins hohe Alter eher abschätzig über Harrers bergsteigerische Fähigkeiten sprach und nie zu erwähnen vergaß, dass er ihm 1938 als Seilerster am Eiger eigentlich das Leben gerettet hatte (zumal Harrer nicht einmal Steigeisen in die 1800 Meter hohe, vereiste Wand mitgenommen hatte), wusste der harmoniebedachte Harrer stets nur Gutes zu sagen. Konflikte mit seinen Weggefährten, von denen es laut deren Berichten so einige gab, werden in seinen Büchern so gut wie nie thematisiert.

Ganz ähnlich bei der würdevollen Eminenz Aufschnaiters, den Harrer wesentlich mehr schätzte als jener ihn. Für die sensationelle West-Ost-Durchquerung Tibets zu Fuß hätte er sich jedenfalls niemand passenderen wünschen können – vor allem auch weil sich der wissensdurstige Tiroler schon in seiner Jugend Tibetisch und Urdu beigebracht hatte.

Harrer: „Natürlich musste man Glück haben bei so einer Flucht, aber vor allem einen idealen Partner. Wissen Sie, wenn Sie nur heimwollen zu Frau und Kindern, dann ist das nicht genug… Man muss bei so einer Flucht schon auch Interesse mitbringen für die Menschen, für die Natur, für Steine, für die Wolken, für das Wetter. Aufschnaiter war da ideal.“

Picknick am Potala: Tibetische Krieger werden zu Losar (Neujahr) vom Volk mit Tschang (Gerstenbier) versorgt
© H. Harrer

 

Im Jänner 1946 erreichten die beiden, verlaust und abgerissen wie ein Bettlerpaar, Lhasa, die verbotene und heilige Hauptstadt der damals noch unabhängigen Theokratie Tibet.

Dort wurden sie gleich einmal auffällig weil sie einige Dienstmädchen durch ihr Anklopfen an den Pforten der Häuser in Panik versetzten. Niemand wollte und konnte den beiden helfen – es war in Tibet bei körperlicher Strafe verboten, Ausländer aufzunehmen oder zu versorgen.

Die Familien der Regierungsbeamten hatten jedoch bald Mitleid mit den Flüchtlingen und stellten ihnen zunächst bescheidene, dann recht noble Quartiere. Dies wurde im Potala-Palast zunächst stillschweigend zur Kenntnis genommen. Besonders die Zeit im Hause des Kaufmannes Tsarong Dzasa und seiner weitläufigen und weltoffenen Familie blieb Harrer in besonders angenehmer Erinnerung.

Das Tsarong-Haus, in einem Pappelhain nahe am Fluss gelegen, verfügte über einen berauschend bunten Garten, in dem sich Harrer als Obstbauer und Springbrunnen-Architekt einbringen konnte, und – eine Seltenheit in Tibet – über gläserne Fensterscheiben. Tsarong, als Selfmademan, Leiter der Staats-Münze und General der Armee unter dem XIII. Dalai Lama in ganz Tibet bekannt, war neugierig auf die Welt außerhalb Tibets und ließ sich Fotoapparate, Theodolite, Teleskope und Zeitschriften in sein Haus kommen. Er trug den guten Ruf der Österreicher bis in die höchsten Regierungskreise.

Der Tse (Potala) vom Tschagpori (Eisenberg) aus gesehen       © Huntley Archives

 

In englischen Illustrierten lasen Aufschnaiter und Harrer schließlich von den Gräueltaten ihrer Landsleute an Juden, Roma, Menschen mit Behinderung und anderen „Entarteten“. Die erschütternden Nachrichten über den industriellen Massenmord an Millionen sorgten bei beiden für einen mentalen Bruch mit der modernen, dem reinen Nützlichkeitsdenken verfallenen Zivilisation, die im spätmittelalterlichen Lhasa noch lange nicht angekommen zu sein schien.

Zu ihrer Überraschung bekleideten die beiden bald einflussreiche Positionen, erhielten Gehälter, Pferde und Diener und wurden in den fünften von sieben Adelsrängen erhoben: Der diplomierte Agrar-Ingenieur Aufschnaiter importierte und baute großflächig besonders resistente Getreidesorten an. Auch wurde er mit dem Bau eines Wasserkraftwerks am Fluß Kyi Chu (das noch heute in Betrieb ist) und eines Kanalisationsnetzes betraut, im Zuge dessen er archäologisch bedeutsame Funde machte.

Harrer wurde als studierter Geograf Kartenzeichner, Briefmarken-Designer, Baumeister, Landvermesser und schließlich Hauslehrer des jugendlichen Dalai Lama, Tenzin Gyatso. Harrer erklärte ihm wie eine Kamera funktioniert, machte ihn mit Shakespeare vertraut („Uneasy lies the head that wears a crown“; Henry IV.), beantwortete die zahllosen geografischen und weltpolitischen Fragen des kindlichen Staatsoberhauptes anhand eines Globus und richtete mithilfe eines Projektors ein Heimkino in der Sommerresidenz, dem Norbulingka, ein.

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Harrer und der XIV. Dalai Lama als Teenager in Lhasa    © Völkerkundemuseum der Uni Zürich

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Kaum hatten sich Harrer und Aufschnaiter mit großem Genuss in ihr neues asiatisches Dasein eingelebt, da marschierten die rotchinesischen Truppen Maos in Tibet ein und begannen ihre Schreckensherrschaft über eine tief buddhistische und allen Lebewesen gegenüber empathische Bevölkerung: Die materialistische Moderne hatte Tibet aus einer unerwarteten Richtung erreicht. Diese gewaltsame Besetzung durch China, die 1,2 Millionen Tibetern das Leben kostete, dauert bis heute an. Harrer floh 1951 über das Chumbi-Tal und Sikkim nach Kalimpong und reiste im Jahr darauf zurück nach Europa. Die Freundschaft zum Dalai Lama hielt sein Leben lang.

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Das Tibetische Erlebnis blieb ein unvergesslicher Traum von einer helleren, höheren Welt: Sowohl der mitteilsame Harrer wie auch der schweigsame Aufschnaiter sollten bis ins hohe Alter Sehnsucht nach dem Lhasa der späten 1940er Jahre haben, mit seinen einfachen und dreckigen aber fröhlichen Bewohnern, seinen teils großmütigen, teils intriganten Mönchsbeamten, sowie einem Dutzend interessanter Gesandter aus Indien, China, Nepal, den USA und Großbritannien. Harrer: „Wir wären nie mehr (aus Lhasa) weggegangen… Was immer wir getan haben, man hat uns eine gewisse Bewunderung entgegengebracht – wir waren gern gesehen. In Europa wären wir nur winzige Rädchen in einem riesigen Maschinenunternehmen gewesen.“

Englische Erstausgabe von Sieben Jahre in Tibet. Das Buch wurde in 53 Sprachen übersetzt, millionenfach verkauft und 1997 verfilmt

Auf seinen vielen abenteuerlichen und kontrastreichen Expeditionen nach Alaska, an den Amazonas, in die Anden, nach Zentralafrika und Ozeanien legte Harrer zunehmend seinen eurozentrischen Blick ab und wurde zu einem Kosmopoliten mit Freunden auf fast allen Kontinenten.

Selten hielt es der professionelle Abenteurer länger als drei Monate im komfortablen, aber hektischen Mitteleuropa aus, bevor es ihn wieder in die lockende Ferne zog – zu Kulturen ohne Armbanduhr, dafür jedoch mit jeder Menge Zeit. Harrer: „Erst wenn ich die Zivilisation hinter mir lasse, fühle ich mich sicher.“

Dem Spiegel wird er in einem letzten großen Interview 1997 (zur Verfilmung seines Bestsellers durch Jean-Jacques Annaud mit Brad Pitt und David Thewlis) eröffnen: „Der größte Fehler der Europäer und der Amerikaner ist, dass sie als Tourist durch die Welt reisen und glauben, unsere Moral und Ethik sei die einzige, die zählt.“

Diese offene und weltgewandte Perspektive ist es auch, die ich zunächst bei Harrer, später dann bei Palin, Newby und Chatwin, bei Thubron und Theroux, bei Messner, Morris und Maraini, bei Iyer und Dyer, Terzani und Timmerberg fand: die Fähigkeit, die Menschen allerorts zu nehmen wie sie nun mal sind und ihnen mit Freundlichkeit zu begegnen.
Damit verbunden, das gemütliche Gefühl des Daheimseins in der Weltweite, die Gabe, in der Fremde Vertrautes und in der Ferne Freunde zu finden. Denn wer, wo auch immer, Freundschaft schließt, ist zu Hause angekommen.

Heinrich Harrer war in meinen Augen weniger ein „harter Typ“, sondern, ganz im Gegenteil, ein weicher, formbarer, und in seiner Ausdauer und Leidensfähigkeit unglaublich zäher Charakter. Er war ein komplexer Mann mit hohen Kontrasten in seiner Persönlichkeit und seiner Ausstrahlung – wo viel Licht, da auch viel Schatten. So war Harrer nicht nur ein egozentrischer Einzelgänger, er war auch gesellig, gutmütig und ein einnehmender Erzähler mit ausgeprägter Beobachtungsgabe.

Im Alter streitbar aber liebenswert, erinnern seine Abenteuer verblüffend an jene von Tolkiens weitgereistem Hobbit Bilbo Beutlin: der Sieg über einen menschenfressenden Steintroll, eine beschwerliche Reise zum Einsamen Berg, Gefangenschaft und Flucht, Mithilfe im Kampf gegen einen Drachen, die Zuneigung guter Mächte und die Rückkehr, reich an Schätzen und Geschichten, die pfeifeschmauchend vorm knisternden Kamin erzählt sein wollen.

Heinrich Harrers bleibender und wertvoller Verdienst: Mit seinem berühmtesten Buch machte er den Blick in das geheimnisvolle, der Welt entrückte Tibet frei. Sieben Jahre in Tibet (1952) öffnete die Herzen der Menschen dem Schicksal des Tibetischen Volkes, und half dem Dalai Lama zu einem der wichtigsten und beliebtesten Botschafter des Friedens und des internationalen Dialogs zu werden.

Und mit großer Wahrscheinlichkeit hat das Reisen, die Erfahrung der Open Road und die buddhistische Philosophie der Gewaltlosigkeit Harrers Weltsicht erweitert, und von „herrenvölkischer“ Engstirnigkeit und maßlosem Ehrgeiz befreit – ähnlich wie es dem Wiener Cho-Oyu-Erstbesteiger und Asienkenner Herbert Tichy ergangen sein dürfte.

Die Lektüre von Harrers Büchern tat erwartungsgemäß ihr übriges: Sie löste in mir einen Hunger nach neuen Horizonten und eine Sehnsucht nach Ferne aus, der ich nun schon oft nachgekommen bin. Die kargen Hochebenen Tibets unter azurblauem, wattewolkigem Firmament, das Licht Südostasiens, ja sogar die erste morgendliche Helligkeit am Ostgrat unseres Wilden Kaisers waren fortan ein Versprechen für mich – von Freiheit, Weite und Leichtigkeit des Geistes, von Göttern, Gelehrten und heiligen Bergen.

Wer weiß, ob ich all das für mein Leben entdeckt hätte, wäre der Forscher und Reiseschriftsteller an jenem Nachmittag in den Achtzigern nicht in den Kartonstapel in unserer Tiefgarage gekracht.

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Sieben Kuriosa aus dem Leben von Heinrich Harrer:

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1) Grundkondition und Ausdauer schrieb der österreichische Bergsteiger und Weltreisende seinem ersten Job zu: Er half Vater Josef, der Postbeamter war, Briefe und Pakete in der weitläufigen Nachbarschaft seines in den Bergen Kärntens gelegenen Heimatdorfes auszutragen. Als beste Voraussetzung seiner Forscherkarriere nannte Harrer die Studienkombination Sport und Geografie.

2) Am Berg oft glimpflich davon gekommen, erlebte Harrer seinen schlimmsten Absturz im Dschungel von Neuguinea: Als er 1962 beim Fotografieren an einem Wasserfall auf einen Schuttkegel sprang, löste sich dieser und riss Harrer knapp 40 Meter in die Tiefe. Unter Höllenqualen wurde er mit 32 gebrochenen Knochen an den Rand der Zivilisation zurückgeschleppt – nur um sieben Wochen später erneut zu seinem Ziel, der „Quelle der Steinäxte“, aufzubrechen.

3) Im Juli 1962 unterbrach Harrer spontan die Rückreise von Papua nach Europa am Flughafen von Bangkok, um einem Life-Korrespondenten ein Interview über seine gelungene Expedition zu geben. Dies rettete ihm das Leben: Das Linienflugzeug, mit dem er hätte weiterfliegen sollen, stürzte bei schwerem Monsunregen in den Ghat-Bergen Indiens ab, wobei alle 94 Passagiere ums Leben kamen. Harrer: „But for Life I wouldn’t be alive.

4) Außer der Erstdurchsteigung der Eiger Nordwand konnte der Alpinist Harrer noch mit einigen weiteren Erstbegehungen aufwarten: So etwa die des Ausangate (6384 m) in Cuzco, Peru, 1953, und des Mount Hunter (4442 m), sowie zweier weiterer Gipfel (Mount Deborah und Mount Drum) der Alaska Range im Jahr 1954. 1962 gelang ihm die Erstbesteigung der Carstensz-Pyramide (4884 m) in Neuguinea, dem höchsten Berg Ozeaniens.

5) In seiner Biografie erzählt Harrer von illustren Zeitgenossen, mit denen ihn Freundschaft oder gegenseitige Bewunderung verbanden: Sven Hedin, Thor Heyerdahl, Edmund Hillary, Tenzing Norgay, Viktor Frankl, der Zoologe George Schaller, die Fotografen Ansel Adams und Helmut Newton, Bing Crosby, Toni Sailer, Alfons Walde, Jean Cocteau, Balthus, der Times-Korrespondent Peter Fleming (Bruder von Ian Fleming) und die Schweizer Asien-Pionierin Ella Maillart.

6) Kurz vor einem seiner vielen Tibet-Vorträge erhielt Harrer 1953 in der Londoner Royal Festival Hall einen Brief von einem gewissen Colonel Williams, der im Publikum zugegen war: „Als Kommandant Ihres Gefangenenlagers in Indien musste ich wegen Ihrer gelungenen Flucht vom HQ Schimpf und Schande über mich ergehen lassen, doch damit nicht genug, heute Abend muss ich Ihnen auch noch Geld dafür zahlen, um zu hören, wie Sie das damals gemacht haben!“

7) Obwohl in seinen Büchern nur verhalten erwähnt, gab es für Harrer doch eine große Liebe in Lhasa: Prinzessin Coocoola von Sikkim. Zu seinem Leidwesen war sie schon an einen tibetischen Aristokraten, den Gouverneur von Gyantse, vergeben.
Coocoola war nicht nur eine reizende und stylische Frau von Welt, sondern auch sehr geschäftstüchtig und fürsorglich: Mit ihrer jüngeren Schwester Kula importierte sie Türkise aus dem Iran und leitete ein Camp für tibetische Flüchtlinge in Gangtok.

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Bibliographie Heinrich Harrer (Auswahl):

– Sieben Jahre in Tibet. Mein Leben am Hofe des Dalai Lama. Ullstein 1952
– Die Weiße Spinne. Das große Buch vom Eiger. Ullstein 1958
– Ich komme aus der Steinzeit. 1965
– Die Lust am großen Abenteuer. 1968.
– Die Götter sollen siegen. Wiedersehen mit Nepal. Ullstein 1968
– Impressionen aus Tibet. Gerettete Schätze. 1974.
– Die letzten Fünfhundert. Expedition zu den Zwergvölkern auf den Andamanen. Ullstein 1977
– Ladakh. Götter und Menschen hinter dem Himalaya. Pinguin 1978
– Die letzten Paradiese der Menschheit. Abenteuerliche Reisen zu den vergessenen Völkern. 1979
– Unter Papuas. 1979
– Huka-Huka. Bei den Xingu-Indianern im Amazonasgebiet. Ullstein 1979
– Der Himalaya blüht. Blumen und Menschen in den Ländern des Himalaya. Pinguin 1980
– Rinpotsche von Ladakh. Pinguin-Verlag 1981
– Wiedersehen mit Tibet. Ullstein 1983
– Tibet und seine Medizin – 2500 Jahre Heilkunst. 1992
– Geister und Dämonen. Magische Erlebnisse in fremden Ländern. Ullstein 1993
– Das alte Lhasa. Bilder aus Tibet. Ullstein 1997
– Mein Leben. Ullstein 2002
– Denk ich an Bhutan. Herbig 2005

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Antiker tantrischer Khatvanga-Stab aus Tibet
© Ethnographic Museum Zurich